Review: COVER (Jack Ketchum) - Vietnamkriegsdrama & Menschenjagd-Action

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Offline Lionel

  • Angemeldet: 29.06.02
    • I'm the King of Moonduk High!
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    http://www.amazon.de/Cover-Jack-Ketchum/dp/0843961872/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1249576500&sr=8-1



    This is the story of the disintegration of a Vietnam War veteran and the havoc that ensues as only Jack Ketchum can tell it.



    Im Vorwort dieses Buches von 1987, das lange OOP war, beschreibt Ketchum wie er befreundete Vietnamveteranen interviewte, um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Hölle sie damals durch gemacht haben und wie sie heute damit leben. Durch diese Aussagen wurde er zum vorliegenden Roman inspiriert. Darüber hinaus geht er auf seine eigene Rolle im und Einstellung gegenüber dem Vietnamkrieg ein. Er selber war nämlich nicht im Krieg, sondern war mehr der Typ Hippie, der gern einen Joint geraucht, einen über den Durst getrunken und nach dem Lebensmotto "Make Love, not War" gelebt hat. Auch interessant ist zu erfahren, dass er um den Titel des Buchs kämpfen musste, weil der Verlag in eine ganz andere Richtung gehen wollte. Ergebnis dieses Machtkampfs war, dass Ketchum zwar seinen Willen durchsetzen konnte, die Auflage aber daraufhin nur derart limitiert veröffentlicht wurde, dass das Buch nur in einigen wenigen ausgesuchten Läden zu finden war und mehr oder weniger unterging.

    Zur Story:
    Lee Moravian ist ein Veteran, der im Vietnamkrieg viel erlebt hat. Seine Psyche ist schwer angeschlagen, im normalen Leben kommt er nicht mehr zurecht. Immer wieder wacht er mitten in der Nacht auf, schweißgebadet und von Alpträumen heimgesucht. Sein Bezug zur Realität ist stark in Mitleidenschaft gezogen, besonders seit seine Frau und sein Sohn, gegenüber denen er gewalttätig wurde und denen er keine wahre Liebe und Zuneigung mehr schenken konnte, ihn verlassen haben. In der Folge zieht er sich völlig zurück und lebt allein in den Wäldern. Eines Tages aber bekommt er ungebetenen Besuch. Eine Gruppe von Campern, bestehend aus dem Schriftsteller Bernard Kelsey, dessen Frau Caroline, Model und Geliebte Michelle, Fotograf Graham, der Bilder vom Autor in der Freizeit festhalten soll, Freund und Kollege Ross, den niemand so richtig leiden mag und der von einem Fettnäpfchen ins andere tritt und Agent Alan Walker, kommt zum Entspannen und Fischen in die Wälder. Doch Lee, der mit seinem treuen Schäferhund Pavlov sowie Whiskey und Marijuana im Wald in den Tag hineinlebt und versucht seine inneren Dämonen in Schach zu halten, verliert immer mehr den Blick für die Realität und beginnt einen Krieg. Die Camper, die Schusswaffen zur Jagd mitgebracht haben, werden in seinen Augen zu Vietcong, die eine ernstzunehmende Bedrohung für ihn darstellen...

    Wem jetzt David Morrells Rambo und James Dickeys Beim Sterben ist jeder der Erste in den Sinn kommt, liegt gar nicht so falsch. Tatsächlich ist Ketchum mit Cover die perfekte Mischung aus bedrückendem Vietnamkriegsdrama und reißerischem Backwood-Terror gelungen.
    Wie bei Dickeys Klassiker, bekanntermaßen ja auch von John Boorman mit u. a. Burt Reynolds in der Hauptrolle verfilmt, treffen zivilisierte, moderne und beruflich erfolgreiche Menschen auf einen von der Gesellschaft verstoßenen Außenseiter. Wie nicht erst seit Dead Presidents, Geboren am 4. Juli oder dem Independentfilm Combat Shock bekannt sein dürfte, wurden die Soldaten, die in Vietnam gekämpft haben, in der Heimat ja nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen, sondern, im Gegenteil, von vielen als Mörder und Vaterlandsverräter beschimpft und bekamen auch sozial und beruflich kein Bein auf die Erde.
    Ein interessantes Thema, das im Nachwort aufgegriffen wird, ist die Frage, ob Lee ein Monster ist, der bereit ist unschuldige Menschen zu töten ohne dabei die geringste Reue zu empfinden; oder ob er, eigentlich liebender Familienvater und lediglich durch die grauenvollen Erfahrungen im Krieg traumatisiert, selbst ein Opfer ist, das man nicht für nicht seine Taten zur Verantwortung ziehen kann. Eine äußerst prekäre Thematik, bei der sich die Geister unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten scheiden. Der Leser jedenfalls empfindet Sympathie mit Lee, obwohl im klar ist, dass es falsch ist, unschuldige Menschen zu töten.

    Die Geschichte selbst ist gewohnt kurzweilig und qualitativ hochwertig, wie man es von Ketchum gewohnt ist. Was den Härtegrad anbelangt, bleibt sie etwas unter seinen anderen Büchern zurück, allen voran seinen beiden Kannibalenbüchern. Doch was Spannung und Charakterisierung angeht, bleiben auch hier wieder keine Wünsche offen, im Gegenteil. Ketchum nimmt sich sehr viel Zeit für den Aufbau seiner Geschichte und verleiht seinen Figuren Kontur und Profil, sodass der Leser sich ein Bild davon machen kann, was in Lees – krankem und irgendwie doch nicht krankem – Kopf vor sich geht und emotional berührt ist, wenn eine Figur von der Bildfläche verschwindet. Tatsächlich findet der erste Mord erst auf Seite 177 (von 308) statt. Langweilig wird die Geschichte dennoch zu keinem Zeitpunkt.

    Ketchum streut immer wieder Flashbacks aus dem Vietnamkrieg ein, schmerzhafte Erfahrungen, die sich in Lees Kopf abspielen und die für den ein oder anderen Leser ein Schlag in die Magengrube sein dürften. So wird auch klar, warum für Lee auch die Frauen in der Campergruppe eine Bedrohung darstellen und warum er keine Hemmungen hat sie zu töten. Denn im Krieg wurden auch Frauen – und Kinder – benutzt, um amerikanische Soldaten mit Bomben und Sprengladungen über den Jordan zu befördern. Im Krieg musste Lee bereits Frauen und Kinder töten, auch völlig unschuldige. In einer besonders unappetitlichen Szene, die ich hier nicht im Detail wiedergeben möchte, wird die Vergewaltigung eines kleinen Mädchens und anschließende Hinrichtung durch einen amerikanischen Soldaten beschrieben; derselbe, unter dessen Leiche Lee am nächsten Tag liegt, bis er von seinen Kameraden geborgen wird.

    Ein kleiner Ausschnitt aus Ketchums Kriegsschilderungen:
    [...] So that then (and this was not the way it happened either, because it was Doc who found him) they walked behind the hooches and there was what was left of Ragweed propped up in the grass, sitting on top of a stone like some kind of  sick roadside shrine, a black man's head with black-red sockets where the eyes had been and his dick shoved into his open mouth.
    Sprinkles turned and puked, a long red arc into the grass – and then suddenly they were back inside the girl's hooch, trashing it, looking for VC papers because they new she was Cong by then, she had to be, trashing the hooch while Henderson and Clemons beat the hell out of the naked whore, screaming at her, furious, all the months of the fear and tension of the sweeps exploding in them, wanting to know where her buddies were – a VC finally, finally in hand and not sniping out of spider holes or mining trails or sliding into camp at night to slit their throats – Henderson and Clemons holding her down while Semple used his boot knife on her face and breasts and kicked her and finally edged the muzzle of his M16 up into her snatch all this happening fast, fast in the dream – screaming at her, the girl screaming back, the whole hooch dripping with rage and agony.
    Then the blurt of Semple's rifle and the splash of bright blood, her body trembling, jerking, and Doc yelling, hey, look at this! Look at this! Over here! So they do look, and he's over in the far corner of the hooch, the hooch in the dream taking on ten more yards of depth suddenly, but they go to him, they leave the dead whore's body and they see that Doc has pulled back the grass on the floor in front of him and uncovered a square trapdoor mad of old weathered wood.


    Ketchum wechselt regelmäßig zwischen Lees Perspektive und der Perspektive der Camper hin und her. Dabei nimmt er sich für beide Parteien, wie bereits erwähnt, genügend Zeit für eine Charakterisierung. Besonders das Dreiecksverhältnis zwischen dem Schriftsteller Kelsey, seiner sexuell etwas "seltsam" eingestellten Frau Caroline und seiner Geliebten Michelle mutet etwas bizarr an und wirkt wenig glaubwürdig. Denn Caroline weiß von der Affäre ihres Mannes mit Michelle, die auch noch schwanger von ihm ist, und es macht ihr nicht das Geringste aus. Und Michelle weiß, dass Caroline es weiß. Statt sauer oder eifersüchtig zu sein, bietet Caroline ihr sogar noch Hilfe bei der Abtreibung an. Und Kelsey scheint es auch nicht großartig zu stören, es vor den Augen seiner Frau im See mit Michelle zu treiben. Dies ist aber eine marginale Schwäche, die insgesamt nicht weiter ins Gewicht fällt.
    Der abgeklärte Alan, Dauerverlierer Ross und Fotograf Graham sind hingegen etwas dünner charakterisiert und bleiben ein wenig blass, jedoch nicht in einem Maße, dass ihr Tod den Leser kalt lässt.

    Die Art und Weise aber wie der kontinuierlich in den Wahnsinn abdriftende Lee sich seiner potenziellen Feinde entledigt, ist äußerst unterhaltsam und abwechslungsreich und erinnert an all die netten B-Movie-Kriegs- und Menschenjagdsschinken, in denen blutige Fallen auftauchen. So setzt Lee nicht nur seinen Hund zur psychologischen Kriegsführung ein, indem er mit seiner Hilfe die Camper aus ihrem Lager lockt, sondern auch Giftschlangen, Drahtschlingen, mit denen er hinterrücks sein erstes Opfer erdrosselt, schwingende Baumstammfallen, eine mit spitzen Pflöcken versehene Grube sowie Pfeil und Bogen, um nur die Hilfsmittel zu nennen, die mir auf Anhieb einfallen.

    Eine Szene:
    He whirled again. The man was aiming.
    The man fired.
    Ross hurtled back as though sucked suddenly down through a wind tunnel. His backpack slapped heavily against the tree behind him and his neck and head snapped with it. Caroline fell, sprayed red. Ross shuddered against the tree, arms and legs jerking. Only for an instant. Then Kelsey's eyes found the bright red stain sliding down over his mouth, over his chin and neck and he thought inanely, Ross has got a nosebleed. The he focused better and saw that the nose was gone, shattered, and in its place the man's second blue-feathered dart passed back through  the base of his skull and pinned him to the tree.


    Besonders hervorzuheben ist auch der Showdown zwischen Lee und Michelle und Caroline, bei dem auch eine coole Szene im See beschrieben wird (Stichwort: Blutegel) und der beinah an die Verfolgung eines "Final Girl" durch ein Slashermonster à la Jason oder Michael erinnert.
    Das Ende kommt relativ überraschend und wird vielen nicht gefallen. Zudem wirkt es etwas "abgehackt". Mir persönlich hat es zwar gut gefallen, aber ich fand es ehrlich gesagt auch zu plötzlich. Viel mehr möchte ich darüber nicht verraten, das würde das Lesevergnügen ruinieren.
    Im Vergleich zu Ketchums anderen Büchern – bisher kenne ich von ihm Evil, Off Season, Offspring, The Lost, Red sowie die Kurzgeschichtensammlung Peacable Kingdom – fällt Cover höchstens geringfügig ab, wenn überhaupt. Eher schafft es Ketchum auch hier – und man darf nicht vergessen, das Buch hat er vor über 20 Jahren geschrieben – Qualität und Spannung auf einem konstant hohen Niveau zu halten. Absolute Empfehlung.

    Der Autor des Nachworts merkt noch an, dass Ketchum, trotz seiner qualitativ hochwertigen Schreibe wohl aus dem Grund nicht so bekannt wie etwa ein King ist bzw. ihm nicht der gebührende Erfolg zuteil wurde, weil er sehr ehrliche und realitätsnahe Geschichten schreibt; Geschichten, die Seiten in einem Menschen ansprechen, die er lieber verdrängen würde. Und aus diesem Grund wüsste nicht jeder die Qualität, mit der er seine Geschichten versieht, zu schätzen. Sich mit Unangenehmem auseinanderzusetzen vermeidet man lieber, das liegt in der Natur des Menschen.
    Ich denke, der Autor hat mit dieser Einschätzung nicht unrecht. Ketchum ist böse. Aber Ketchum ist auch unheimlich gut.
    « Letzte Änderung: 24. September 2009, 22:37:53 von Lionel »


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    Offline Havoc

    • Bürohengst sucht Paragraphenreiterin
    • Die Großen Alten
      • Let me show you its features, hehehe!
        • Show only replies by Havoc
      Danke für die ausführliche Besprechung! :biggrin:
      Das werde ich mir auch mal notieren.
      “When I ride my bike I feel free and happy and strong.  I’m liberated from the usual nonsense of day to day life.  Solid, dependable, silent, my bike is my horse, my fighter jet, my island, my friend.  Together we will conquer that hill and thereafter the world”


      Offline JasonXtreme

      • Let me be your Valentineee! YEAH!
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        • Weiter im Text...
          • Show only replies by JasonXtreme
        Das klingt mal DAMN interessant!!! Danke Gert - ich komm wohl schlussendlich doch nicht mehr drumrum mal mit englischen Büchern weiterzumachen!
        Einmal dachte ich ich hätte unrecht... aber ich hatte mich geirrt.


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        Offline Flightcrank

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          • Just a guy stuck in the 80s...
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          Monsterreview :!:

          Mal sehen wann es in der übersetzten Fassung bei uns zu haben ist. Hab mir grad gestern den zweiten Kannibalenreißer von Ketchum, BEUTEGIER, gekauft. Lese ich dann ab Montag... :)


          Offline Thomas Covenant

          • Die Großen Alten
              • Show only replies by Thomas Covenant
            Da sind sie wieder, diese Buchreviews, die einen säuischen Apetit machen  :biggrin:
            Geile Steilvorlage dieser Tip. Buch wird notiert.