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Review: TOKYO (Mo Hayder)

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Lionel:


http://www.amazon.de/Tokio-Roman-Mo-Hayder/dp/3442463203/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1252583740&sr=8-1


Die junge Studentin Grey aus England ist schon ihr ganzes Leben lang von einem einzigen Gedanken besessen: Einen Film zu finden, den ein Überlebender des Nanking-Massakers im Jahre 1937 an sich genommen hat, und der die Gräueltaten dieser menschenverachtenden Aktion der japanischen Soldaten zeigt. Jahrelang hat sie in einer Klinik verbracht, in der ihr immer wieder gesagt wurde, sie sei gestört, nicht normal und bilde sich alles, wovon sie rede, nur ein. Denn eines Tages war sie in einer Bücherei auf ein Magazin gestoßen, dass davon sprach, dass es einen solchen Film gibt und dieser sich in den Händen eines chinesischen Professors befinde, ein Überlebender der Tragödie - doch genau dies will ihr niemand aus ihrem Umfeld glauben. Mit gerade mal genügend Geld für einen Flug nach Tokio macht sich die junge Studentin auf, um den Professor - Shi Chongming - aufzusuchen. Dieser jedoch reagiert erbost und weist Grey, für die es in ihrem Leben kein höheres Ziel gibt, als zu beweisen, dass sie nicht verrückt ist, immer wieder ab. Schließlich aber lässt er sich doch auf ein Geschäft mit der jungen Engländerin ein. Er erklärt sich bereit ihr den Film zu zeigen, wenn Grey, die mittlerweile als Hostess in einem japanischen Nachtclub arbeitet, um genügend Geld für ihren Aufenthalt zu verdienen, ihm einen Gefallen erweist. Sie soll einen ihrer Kunden, den alten Yakuza-Boss Fuyuki ausspionieren. Dieser besitzt nämlich eine Art Elixier, das es ihm ermöglicht, seine Gesundheit zu erhalten. Grey ist einverstanden, hat jedoch keine Ahnung, worauf sie sich einlässt. Unter Einsatz ihres Lebens versucht sie dem im Rollstuhl sitzenden Yakuza-Boss sein Geheimnis zu entlocken. Doch was sie dabei entdeckt, ist grausamer, als sie sich in ihren kühnsten Träumen hätte vorstellen können...

Dieses beeindruckende Werk von Mo Hayder über die Kriegsverbrechen, die die Japaner in China begangen haben - beim Nanking-Massaker wurden mehr als 200.000 Kriegsgefangene und Zivilisten (andere Zahlen sprechen gar von 400.000) brutal ermordet und rund 20.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt - enthält zwei Handlungsstränge, die alternierend geschildert werden. Der eine Handlungsstrang - der Haupthandlungsstrang - erzählt die gegenwärtige Suche von Grey nach dem Geheimnis, das ihr ihr größtes Ziel erfüllen soll. Der andere Handlungsstrang berichtet von Shi Chongming, der sein Tagebuch aus den Zeiten des Nanking-Massakers wieder ausgräbt, und dem Leser vor Augen führt, was damals vorgefallen ist. Man erfährt von der anfänglichen Unbekümmertheit des Chinesen, der es nicht für möglich gehalten hatte, dass die Japaner tatsächlich die Stadt erobern könnten, und wenn doch, der Überzeugung anheimfiel, dass die Japaner ja zivilisiert seien, und es deshalb vorzog, nicht zu fliehen - obwohl seine schwangere Frau ihn dazu drängte. Die Handlung entfaltet sich Stück für Stück, bis zu der Nacht, in der die beiden merken, dass die Japaner tatsächlich einmarschiert sind und die chinesischen Soldaten ihnen kein Paroli bieten können. Mo Hayder schildert in der Folge fürchterliche Verbrechen, die alle auf Tatsachenberichten beruhen, die aber so unaussprechlich sind, dass ich hier keines davon erwähnen will. Es sei lediglich gesagt, dass ein äußerst gewissenloser japanischer Soldat, von allen nur "Der Teufel" genannt, sich besonders grausam im japanischen Mordreigen hervortut. Hayder schafft es dabei, den Leser in diese Zeit zu versetzen und beschreibt die unerträgliche Situation von Shi Chongming und seiner Frau so anschaulich, dass man sich geradezu in das Geschehen hineinversetzt fühlt.

Die Charaktere in Tokyo sind vielschichtig und glaubwürdig gezeichnet, allen voran die beiden Hauptfiguren, Grey und Shi Chongming. Grey, die aus zerütteten Familienverhältnissen kommt und extrem weltfremd ist, hat schon die ein oder andere Erfahrung in ihrem Leben gemacht, die man als Außenstehender durchaus als krank, pervers oder abstoßend titulieren würde (Stichwort: Sexualität). Und genau dies ist es auch, was ihr die Menschen in ihrem Umfeld ihr immer wieder sagen. Nichts verletzt sie jedoch so sehr wie die Tatsache, dass ihr niemand glauben will, dass sie über den Nanking-Film in einem Magazin gelesen hat, und aus diesem Grunde für verrückt gehalten wird. Es gibt eine weitere Facette, die in Greys Leben eine entscheidende Rolle spielt und über die der Leser erst am Ende des Buches voll im Bilde ist; eine Facette, die ihr eine traurige Parallele mit dem Schicksal Shi Chongmings beschert. Doch darauf möchte ich nicht eingehen, weil ich dadurch schon zu viel verraten würde.
Shi Chongming wird uns vorgestellt als renommierter Professor für Soziologie, ein einst brillanter Linguist, der in der Universität in Tokio beschäftigt ist und der durch Greys Erscheinen von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Doch Shi Chongming hat ein ganz bestimmtes Interesse daran, sich in Japan aufzuhalten und Grey auf den Yakuza-Boss Fuyuki anzusetzen. Ein persönliches Interesse.
Weitere Charaktere sind die Mitbewohner  von Grey, der junge Amerikaner Jason sowie die beiden Russinnen Irina und Svetlana, die ebenfalls alle in dem Nachtclub - für den Marilyn Monroe Fan Nr. 1, Strawberry - arbeiten. Jason ist eine besonders obskure Figur, wird er von den beiden Russinnen doch als sonderbar und pervers beschrieben. Jason ist ein junger Gigolo, ein hübscher junger Bengel, dem die Frauen zu Füßen liegen und dem alles egal ist. Er spielt eine größere Rolle als Strawberry oder die beiden Russinnen, und im Hinblick auf den Fortgang der Geschichte nimmt er eine besondere Stellung ein.
Der gealterte Fuyuki hingegen wird bewusst vage gezeichnet. Ich glaube, im gesamten Buch sagt er kaum einen Satz. Dafür wird seine Leibwächtern, "Die Krankenschwester", zu Genüge beschrieben. Sie ist eine geheimnisvolle und gewissenlose Killerin, vor der selbst die kühnsten Gangster der Tokioter Unterwelt  erzittern.

Besonders interessant wird das Buch, wenn man merkt, wie die beiden Handlungsstränge, die am Ende ineinander über laufen, zusammenhängen. Die letzten Kapitel sind dermaßen spannend geschrieben, aber in ihrer Grausamkeit auch schwer zu ertragen, dass man es kaum beschreiben kann. Ich musste mehrmals schwer schlucken, als ich merkte, worauf das Ganze hinausläuft.
Hayder hat sich offenbar eindringlich mit den grausamen Kriegsverbrechen in Nanking beschäftigt und berichtet zum Beispiel, dass es tatsächlich kaum Beweise im eigentlichen Sinne des Wortes für die Taten der Japaner gibt (es gibt wohl einen Film von einem Reverend, der auch in diesem Buch erwähnt wird), und dass es ihr daher schwer fiel, eine Story um das Grundhandlungsgerüst zu spinnen. Die kaum in Worte zu fassende Untat, auf die das Buch inhaltlich hinausläuft, beruht jedenfalls auf einem wahren Verbrechen, über das in einem der Bücher zum Nanking-Massaker berichtet wird. Und meines Wissens nach beschäftigen sich ja auch die Japan-Sickos Men Behind the Sun mit den Kriegsverbrechen, die die Japaner an den Chinesen begangen haben. Desweiteren stellt Hayder heraus, dass es bis heute unklar ist, wie eine ansonsten äußerst disziplinierte japanische Armee so außer Rand und Band geraten und sich Menschen in Bestien verwandeln konnten. Offenbar gibt es ein interessantes Buch zu dem Thema, das sich ausschließlich mit der Psyche des japanischen Soldaten beschäftigt.

Obwohl das Buch im Mittelteil einige Stellen aufweist, die der ein oder andere als "Längen" bezeichen würde, bleibt letztlich zu konstatieren, dass Hayder mit Tokyo ein absolut fesselndes und spannendes Werk mit einem unsagbar traurigen und grauenvollen Grundthema gelungen ist, das auf Tatsachen beruht. Ich konnte kaum aufhören zu lesen und habe die etwa 460 Seiten (englisch) in zwei Tagen durchgehauen. Es ist sicherlich kein Meisterwerk, aber es ist - wie Hayders Psychothriller Birdman - ein äußerst spannendes und gutes Buch. Von meiner Seite gibt es eine uneingeschränkte Empfehlung. Lesen!

JasonXtreme:
Na das ist doch mal umfangreich abgerissen! Freut mich, dass es Dir gefallen hat - ich glaub ich hab auch nen Fred dazu, ich bau die mal zusammen.

Lionel:

--- Zitat von: JasonXtreme am 10. September 2009, 15:02:59 ---Na das ist doch mal umfangreich abgerissen! Freut mich, dass es Dir gefallen hat - ich glaub ich hab auch nen Fred dazu, ich bau die mal zusammen.

--- Ende Zitat ---
Joa, war Arbeit. :D
Wenns kein Review von dir ist, brauchste eigentlich nicht zusammenbauen. Aber wie 'de magst. ;)

Lionel:
Mir ist grad dank Suchmaschine aufgefallen, dass es zu DIE SEKTE aber zwei Threads gibt, die sich beide nur allgemein mit dem Buch beschäftigen. Die könnt man auf jeden Fall mal zusammenführen. ;)

Alter, das Thema war echt mal übel. Da haste mich auf was gestoßen.. :neutral:  ;)

JasonXtreme:
Ne habs auch gesehen, das is eher n allgemeiner Hayder Thread.

Ja die Thematik ist definitiv nicht ohne. Und zu der Sache mit "wie die disziplinierten Soldaten sowas tun konnten" kann ich Dir auch ausm Kosovo ganz andere Sachen aus erster Hand erzählen (der Koch ausm CU war dabei zu der Zeit - als Soldat)... das erklärt echt einiges.

Aber die anderen Bücher zu dem Thema interessieren mich dennoch brennend.

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