Story: Im Kern der Angst

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Offline Janno

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    So Freunde, nach gut vier Jahren hab ich tatsächlich malwieder was geschrieben. Nur leider wollte mir irgendwie kein passender Titel einfallen, deswegen ist das da oben auch erstmal der Arbeitstitel. Lest euch also ruhig die Geschichte durch und sagt mir, wie ihr sie findet. Und verratet mir, ob der Titel vielleicht doch passend ist. Ansonsten bin ich für Vorschläge offen :)

    Also auf geht die wilde Fahrt...



    Es war Dienstag.  Wie jeden Wochentag begann Ryan Harper seinen Arbeitstag um Punkt 8:00 Uhr morgens. Abgesehen von dem täglichen Verkehrschaos und einem schmerzenden Rücken, ging es dem 34jährigen Football-Fan gut, auch wenn er diesmal nicht viel Schlaf bekommen hatte. „Genieße jeden Tag, als wäre es dein Letzter“ sagte er sich immer wieder, daher sah er fast alles in seinem Leben zwanghaft positiv.
    Bevor er zur Arbeit fuhr, frühstückte er, wie jeden Morgen,  mit seiner Frau Clarice und seinem zwölfjährigen Sohn Dennis. Das Zusammensein gab ihm Kraft und Stärke und er wüsste nicht, was er ohne seine Familie tun sollte. Sie bedeutete ihm alles. Er brauchte sie einfach zum Leben. Und sie brauchten ihn. Besonders freute er sich auf seine Tochter, die in gut zwei Monaten zur Welt kommen sollte, auch wenn er glaubte, dass Dennis ein wenig eifersüchtig auf sein kleines Schwesterchen werden könnte.
    An diesem Morgen schaute Clarice Ryan jedoch besorgt an. „Schatz, vielleicht solltest du mit deinem schlimmen Rücken zum Arzt gehen und dich heute krankmelden“, versuchte sie ihm klarzumachen. Ryan hatte letzte Nacht wegen starken Rückenschmerzen kaum ein Auge zu machen können, jedoch war ihm sein Job zu wichtig, um wegen solch lächerlichen Rückenproblemen daheim zu bleiben.
    „Solange ich noch in der Lage bin, eine Tastatur zu bedienen und den Bildschirm vor mir erkennen kann, werde ich auch zur Arbeit gehen und es überstehen. Mach dir mal keine Sorgen. Es wird schon alles gutgehen“, versuchte er seine Frau zu überzeugen und drückte sachte ihre Hand.
    Dennis schaute von seinem Sandwich auf, sah seinen Vater an und sagte: „Dad, ohne Scheiß, bleib zuhause und pfeif auf die Arbeit. Wenn dir der Rücken wehtut, bringt es doch keinem was, wenn du dich auf der Abreit abackerst. Also ich würde da ja lieber im Bett bleiben und bis Mittag pennen.“
    „Das geht schon. Sieh du lieber zu, dass du zur Schule kommst und da nicht einpennst. Der Bus ist schon gleich da“, erwiderte Ryan und warf seinem Sohn den Rucksack zu, der neben dem Küchenstuhl lag.
    Für einen kurzen Moment hatte tatsächlich auch darüber nachgedacht, ob er nicht zum Arzt gehen solle und sich den Tag über schonen sollte. Doch nach einer kurzen Überlegung hatte er sich dagegen entschieden. Zwei Schmerztabletten würden die Sache schon regeln.
    Kurz nach dem Frühstück und seiner „Tablettenbehandlung“ verabschiedete er sich von Clarice mit den Worten: „Nach der Arbeit werde ich beim Arzt vorbeischauen, versprochen. Und morgen werde ich mich schonen, wenn es wirklich nötig ist.“
    „Aber überanstreng dich nicht. Geh es ruhig an“ bat ihn seine Frau.
    „Ich wüsste nicht, wie ich mich im Büro überanstrengen kann. Mach dir keine Sorgen. Und pass gut auf unsere kleine Tochter auf. Ich liebe dich“, sagte er, küsste sie abermals auf die Stirn und streichelte sachte den Bauch seiner schwangeren Frau, bevor er ins Auto stieg und zur Arbeit fuhr.

    Da saß er nun also. Der PC-Monitor surrte leise und die Kalkulationstabelle starrte ihn an. „Ich lebe meinen Traum“, dachte sich Ryan und musste grinsen. Er konnte gut mit Zahlen umgehen, aber sein Traumjob war alles andere, nur nicht Buchhalter. Aber er sah ein, dass es gutes Geld ist, das man damit verdienen konnte. Und man machte sich nicht kaputt, auch wenn die Stühle an seinem Arbeitsplatz sehr zu wünschen übrig ließen.
    Im Radio lief ein alter Klassiker, den Ryan leise mitsummte, während er die Tabelle mit Zahlen fütterte. Er sah sich die letzten Rechnungen seiner Kollegen an und beschloss, diese einmal mit seinem Chef durchzugehen, bevor um 8:50 Uhr die tägliche Besprechung seiner Abteilung stattfand. So konnten noch vorher Unstimmigkeiten aus der Welt geschafft werden oder später bei dem Meeting besprochen werden.
    Ryan schnappte sich also den Papierstapel, öffnete geschickt mit dem Ellenbogen seine Bürotür und machte sich auf den Weg zu seinem Boss, als es passierte.
    Ein ohrenbetäubender Knall dröhnte durch das Gebäude,  gefolgt von einer massiven Erschütterung. Ryan kam ins Taumeln und ließ den ganzen Stapel Rechnungen zu Boden fallen. Anschließend verlor auch eher vollständig das Gleichgewicht. Er dachte zuerst an ein Erdbeben, aber dafür ging alles viel zu schnell. Schreie schallten aus jeder Himmelsrichtung. Er versuchte die Lage zu sondieren, aber alles was er sah, war Panik.
    Das Beben war nur kurz, aber lautes Gepolter und Schreie hörte er nachwievor. Er schaute zu einem Fenster und sah dunklen Rauch aufsteigen. Nun stieg auch in ihm Panik auf und er war nicht imstande, sich nur einen Zentimeter zu rühren. Der Beben war zwar vorbei, aber spürte, wie der Boden zitterte. Erst dachte er, dass er es sei, doch diesen Gedanken verwarf er schnell wieder, als er die umherlaufenden Menschen beobachtete. „Was ist hier los?“ rief er lauthals, doch niemand antwortete. All seine Kollegen liefen und stolperten panisch durch die Gänge. Jeder konzentrierte sich nur auf sich selber.
    Ryan nahm all seinen Mut zusammen, hievte sich an einer Tischkante auf die Beine und nahm erst jetzt das ganze Chaos richtig und vollständig wahr. Stühle und Tische waren umgestürzt, Computer waren über Räume und Flure verteilt und Bilder waren von den Wänden gefallen. Niemand saß mehr an seinem Platz, denn viele seiner Kollegen versammelten sich an den Fenstern, andere rannten panisch und scheinbar völlig planlos durch die Gänge. Nur einige wenige saßen wie paralysiert an ihren Schreibtischen und waren starr vor Angst. Larry Sanders hatte sich unter seinen Tisch verkrochen und murmelte etwas vom Ende der Welt. Dann schaute er mich an und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.
    Einige Menschen übergaben sich in dem ganzen Chaos, welches hier nun Oberhand hatte. Plötzlich gab es einen weiteren heftigen Ruck und es war schwer, sich auf den Beinen zu halten, doch Ryan fing sich schnell wieder. „Wir werden steeeeeeeeeeeerben!“ hörte er viele von seinen Kollegen schreien. Carly Struthers kam auf Ryan zu und packte ihn an den Schultern. Sie blickte ihm tief und die Augen und flehte ihn nahezu an: „HOL MICH HIER RAUS! BITTE BITTE, RETTE MICH!“
    „Alles wird gut. Carly, alles wird wieder gut“, versuchte Ryan ihr in einem möglichst ruhigen Ton zu erklären, aber auch er konnte seine Angst kaum verbergen. Seine Augen sprachen eine deutlichere Sprache, was wohl auch Carly bemerkte. Sie ließ hektisch von ihm ab und heftete sich an die nächste Person.
    Ryan bemerkte, dass sein Handy klingelte, was er jedoch ignorierte. Es war keine Zeit für sinnlose Gespräche. „Die Notausgänge“, dachte er und eilte auf wackligen Beinen in diese Richtung. Es schien jedoch, als hätten mehrere Leute den gleichen  Gedanken und so verkeilten sich mehrere Körper panischer Menschen in dem kleinen Türrahmen des Notausgangs. Für sie gab es kein Vor- und kein Rückwärts. Auch Ryan sah sich in der Falle, denn nun waren alle Ausgänge versperrt.

    Wieder klingelte das Handy. Er zog es aus seiner Hosentasche und sah auf das Display. Es war Clarice. Ryan atmete tief durch und nahm das Gespräch entgegen, konnte jedoch nicht den ängstlichen Tonfall in seiner Stimme unterdrücken: „Schatz, ich…“
    „Warum nimmst du nicht ab, verdammt nochmal?! Ich habe sieben Mal versucht, dich zu erreichen, aber du nimmst einfach nicht ab, verdammte Scheiße!“ unterbrach Clarice ihn.
    „Schatz, du brauchst dir keine Sorgen machen. Es sind nur kurze Beben. Ich komm so schnell wie es geht nach Hause. Ich…“, setzte Ryan an, doch er kam mitten im Satz ins Stocken, als er aus dem Fenster zum anderen Gebäude sah. Er konnte nicht glauben, was sich dort vor seinen Augen abspielte. Zu den wieder einsetzenden panischen Schreien kroch auch eine Art Unglauben in Ryan empor. Was er sah, konnte nicht wirklich passieren. Es wirkte einfach zu unwirklich, als das es wirklich passieren konnte. Es war völlig unfassbar.
    „Ryan, was ist los?! Bist du noch dran?! SAG DOCH WAS!!!“, schrie Clarice ins Telefon.
    Ryan schloss die Augen und versuchte, sich die Tränen zu verkneifen, was jedoch fehlschlug. Mit tränengeröteten Augen ging er langsam auf das Fenster zu. „Clarice, ich liebe dich, vergiss das niemals. Und bitte sag Dennis, dass ich auch ihn immer lieben werde“ sagte er noch, bevor er das Handy zuklappte und zu Boden fallen ließ.

    Er schaute aus dem Fenster und war nicht mehr in der Lage zu atmen. Nach einem riesigen Knall klaffte ein gigantisches Loch im gegenüberliegenden Gebäude. Feuer und Rauchschwaden quollen daraus hervor. Ebenso verhinderten Rauchschwaden aus den unteren Stockwerken jede klare Sicht.
    Ist das wirklich das Ende der Welt? Hört so alles auf? Alles Fragen, die sich nun auch Ryan tatsächlich stellte. Die größte Angst war jedoch, seine Familie nicht mehr in die Arme schließen zu können. Zu verpassen, wie sein Sohn aufwächst.
    Jemand stellte ein Radio an, welches, völlig von Staub bedeckt, auf dem Fußboden lag.
    Ryan konnte nur Bruchstücke der Radiosendung hören, da die vielen Schreie immernoch in seinen Ohren lagen.
    „11.September…09:03 Uhr…zweites Flugzeug…südlichen Turm…“, rauschte es aus dem Radio.
    „Was ist das für eine kranke Scheiße!?! Gott, hilf uns“, schrie jemand panisch durch eines der zerbrochenen Fenster.

    Ein weiterer Ruck erschütterte das Gebäude und einige Leute stürzten fast aus den Fenstern. Eine weitere Schreckenssekunde reihte sich an die Nächste.
    Larry Sanders, inzwischen unter seinem Tisch hervorgekrochen, stand nun neben Ryan, kreidebleich und mit einem völlig ausdruckslosen Blick. Er legte seine Hand auf Ryans Schulter, drehte den Kopf zu ihm und blickte ihn mit seinen leeren Augen an. Vollkommen emotionslos sagte er: „Wir müssen zu den Engeln. Gott und seine Helfer warten bereits auf uns. Komm mit mir.“
    Kaum hatte er den Satz beendet griff er blitzschnell nach Ryans Armen und ließ ihm keine Zeit, irgendetwas zu sagen. Larry trat durch das zerbrochene Fenster und stieg ohne zu zögern über die Schwelle. Ryan versuchte sich aus seinem Griff zu lösen, doch vergebens. Er zog ihn mit sich. Einige Leute griffen nach ihnen und bekamen Ryan an seiner Jacke zu fassen. Nun hingen Larry und Ryan an der Häuserwand des nördlichen Turms des World Trade Centers, während zwei Leute versuchten, sie wieder ins Innere zu ziehen. „Lasst uns gehen. Der Herr erwartet uns bereits mit offenen Armen. Ihr solltet alle mit uns kommen“, rief Larry voller Überzeugung zu ihren Helfern und zerrte weiter an Ryan, um ihn mit sich in die Tiefe zu reißen. Plötzlich erschütterte ein weiterer starker Ruck das Gebäude und die Hände, die sie vor dem sicheren Tod bewahren sollten, lösten sich von der Jacke und verschwanden wieder im Chaos der Büroräume.

    Der Sturz kam Ryan vor, als würde er in Zeitlupe geschehen. Er konnte das riesige Loch sehen, welches einige Etagen unter ihrem Stockwerk klaffte. Leblose Körper mit abgetrennten Gliedmaßen. Verbrannte Leiber. Dann schloss Ryan seine Augen und blendete seine Umwelt völlig aus.
    Es hieß ja, dass das Leben vor dem geistigen Auge noch einmal an einem vorbeizieht. Bei Ryan war genau das der Fall. Er sah das erste Treffen mit Clarice auf einer dieser High School-Parties. Der erste Kuss. Er sah die Geburt seines Sohnes und wie er mit ihm Baseball im Garten gespielt hat. Das Letzte, was er sah, war seine ungeborene Tochter, die ihm folgende Wörter ins Ohr flüsterte: „Ich werde dich niemals vergessen, Daddy.“
    Eine Träne löste sich und er lächelte.
    Dann wurde es dunkel.

    Am 11.September 2001 starben bei dem Anschlag auf das World Trade Center rund 2.970 Menschen. Ryan Harper war einer von ihnen.
    « Letzte Änderung: 20. Juli 2011, 02:00:56 von Janno »


    Offline JasonXtreme

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      Nicht schlecht. Zwar würde ich einige Sätze an ein paar Stellen etwas umformulieren, oder Wörter anders setzen - aber ich finds nicht übel :)
      Einmal dachte ich ich hätte unrecht... aber ich hatte mich geirrt.


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      Offline nemesis

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        Gute Idee. Ein wenig am ein oder anderen Satzbau würde ich noch feilen, das Wort "Rücken" oben nicht ganz so oft verwenden, Den ein oder anderen "erklärenden"Satz würde ich weg lassen, z.B. das mit dem an einem vorbei ziehenden Leben, da sich das imo von selbst erklärt. Und das mit dem Radio, weil es der finalen "'Pointe" etwas die Wucht nimmt.

        Was den Titel angeht, fände ich statt "Kern" z.B. "Zentrum" passender.


        Offline Janno

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          Gute Idee. Ein wenig am ein oder anderen Satzbau würde ich noch feilen, das Wort "Rücken" oben nicht ganz so oft verwenden, Den ein oder anderen "erklärenden"Satz würde ich weg lassen, z.B. das mit dem an einem vorbei ziehenden Leben, da sich das imo von selbst erklärt. Und das mit dem Radio, weil es der finalen "'Pointe" etwas die Wucht nimmt.

          Was den Titel angeht, fände ich statt "Kern" z.B. "Zentrum" passender.
          Erst mal danke ich euch beiden für die Kritik.
          Meinst du also, ich sollte das Radio komplett weglassen?


          Offline JasonXtreme

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            Jo das wäre ne Idee, finde ich auch.
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