Momentaufnahmen

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Offline nemesis

  • In der Vergangenheit lebender
  • Die Großen Alten
    • Videosaurier
      • Show only replies by nemesis
    Hier etwas Episodisches:


    MOMENTAUFNAHMEN


    Als er sie kennenlernte war er siebzehn. Sie arbeitete als Aushilfe in einer Videothek, die er nach der Schule gelegentlich aufsuchte um sich einen Überblick über die Neuerscheinungen zu verschaffen. Eigentlich hatte er dort nichts zu suchen, es war eine Erwachsenenvideothek, doch das interessierte ihn nicht sonderlich. Zu seinem Glück sah man das dort auch nicht so eng. Er sammelte Filmplakate, und dadurch kamen sie ins Gespräch. An diesem Tag fiel ihm das Poster zu "Nightmare 4" ins Auge, und das wollte er unbedingt haben. Sie war fünf Jahre älter als er, recht zierlich, blond, und sie strahlte eine unbändige Energie aus die ihn sofort fesselte. So kam es dass man nun gelegentlich einen Kaffee miteinander trank und über Filme plauderte. Die Welt war in Ordnung.

    Sie wohnte in einer lauschigen Dachwohnung. Es roch dort nach Räucherstäbchen und Tee, eine Katze zog ihre Bahnen, Sonnenstrahlen drangen durch die Dachfenster. Sie legte gelegentlich Tarot, hatte eine ausgeprägte esoterische Ader. Carlos Castaneda stand in ihrem Bücherregal. Sie glaubte an Wiedergeburt und an den unabwendbaren Lauf der Dinge, an festgelegte Abläufe, die sich in jedem Leben wiederholten.

    Gelegentlich rauchte sie. Das schien nicht weiter schlimm zu sein. So rauchten sie auch schon mal zusammen. Einmal bekamen sie einen nicht enden wollenden Lachanfall und lagen eine Ewigkeit am Boden. Die Bauchschmerzen danach würden sie nie vergessen.

    Manchmal sahen sie sich zusammen Filme an, lagen aneinandergeschmiegt auf ihrer Matratze. Er konnte ihren Herzschlag spüren. Sie war so lebendig. Sie wusste dass er sie liebte. Er wusste dass sie dies nicht erwiderte. Er dachte er könnte auf Dauer damit klar kommen.

    Es war erstaunlich wie schnell man sich aus den Augen verlieren konnte. Einige Zeit war vergangen. Als er sie wieder sah spürte er sofort, dass sich an seinen Gefühlen zu ihr nicht das geringste geändert hatte. Man fing an wieder öfter Zeit miteinander zu verbringen.

    Sie war kreativ. Sie malte, schrieb Gedichte. Im Hintergrund lief Musik von Vangelis und man brachte bei kerzenschein sein Innerstes zu Papier. Sie war dazu übergegangen, gelegentlich Kokain zu nehmen. Sie ließ sich nicht davon abbringen. Alle Versuche waren zwecklos. Irgendwann resignierte er.

    Es war dunkel. Sie schlief neben ihm. Er spürte ihren Arm auf seiner Brust. Sein Blick verlor sich in der Unendlichkeit der Zimmerdecke. Er hatte alles was er wollte so nahe bei sich. So unendlich weit entfernt. Er schloss die Augen.

    Sie saßen in der Küche. der Duft von Kaffee lag in der Luft. Er saß auf einem Stuhl, sie auf ihm. Ein Augenblick der Nähe. Seine Hand strich über ihren Nacken. Ihre Hände glitten über seine Rücken. Ihr Kinn ruhte auf seiner Schulter. Er verbarg sein Gesicht in ihrem haar. Er gab ihr das Gefühl von Wärme die sie brauchte, eines Freundes der bei ihr war. Er wusste dass es ihn früher oder später zerfleischen würde. Aber er brauchte sie, sog jede Sekunde ihrer Gegenwart tief in seine Seele auf. es war nur ein Moment. Es war die Ewigkeit.

    Sie lernte jemanden kennen. man verlor sich aus den Augen. Er stürzte sich in die Arbeit und versuchte, seine Gefühlswelt zu ordnen. Irgendwann glaubte er sogar, es geschafft zu haben, doch dann traf er sie wieder. Sie hing an der Nadel, Heroin für ihre Sucht, Kokain um wieder halbwegs klar zu werden. Er versuchte alles um ihr zu helfen, doch er erreichte nichts. Sie ließ es nicht zu. Sie wollte "ihr" Leben führen. In ihren früheren Leben habe sie sich stets selbst zu Grunde gerichtet. Sie ergab sich ihrem Schicksal.

    Ihre Augen verloren an Glanz. Die schöne, glatte Haut ihrer Arme war bedeckt von Einstichen. Und dennoch schien sie noch so voller Energie. Nach einiger Zeit entschloss sie sich dann tatsächlich zu einem Entzug.

    Später. Oft rinnt die Zeit wie Sand durch die Finger des Lebens. Sie war aus der Klinik abgehauen und wieder an die falschen Leute geraten. Bald hatte sie Drogenschulden. Die beglich sie. Mit ihrem Körper.

    Sie bekam Methadon, spritzte aber weiter. Kurz waren die Momente zwischen den Kicks die sie brauchte. Das Leben reduzierte sich auf Episoden. Als sie ihm alles aus der Zeit nach dem Klinikaufenthalt erzählte zerbrach etwas in seinem Innersten. All die Jahre die er sie kannte bluteten tief in seinem Herzen.

    Sie war immer ehrlich und direkt zu ihm gewesen. Oft wirkte es schroff, aber es verhinderte falsche Hoffnungen seinerseits. das respektierte und schätzte er an ihr. An seinen Gefühlen änderte das jedoch nichts.

    Er saß in ihrem Zimmer. Sie war ins Bad gegangen. Es dauerte beunruhigend lange. Er klopfte an die verschlossene Tür und nach einiger Zeit öffnete sie ihm. Sie war eingeschlafen. In ihrem abgebundenen Arm steckte noch die Spritze. Doch sie versuchte Gelassenheit auszustrahlen, vielleicht war sie es sogar.

    Eine Parkanlage. Auf dem Kopf stehende Coladosen. Alufolien, Verpackungen von Einwegspritzen, Kanülen lagen auf der Erde herum. Jemand dessen Arme bereits bis aufs äusserste zerstochen waren spritzte sich in die Leiste, ein anderer in den Hals. Gestrandete Leben irrten Im Dunkel umher, ziellos, hoffnungslos.

    Ein Fixerkaffee in der Nähe. Sie tauschte ihre gebrauchten Spritzen gegen neue ein. Ein Kaffee auf den Weg. Unterwegs ein Kaugummiautomat am Straßenrand. Sie warf eine Münze ein und zog einen Flummi. Die kleine rosa Kugel sprang umher, unvorhersehbar, ungebändigt. Dieser kleine Gegenstand ließ für wenige Minuten die Sinnlosigkeit vergessen.

    Nacht. Er schlenderte im Regen ziellos umher. Als er an einem Fahrkartenautomaten vorbeikam rammte er seine Faust mit aller Kraft dagegen. Irgendwann saß er auf einer Treppe, durchnässt, sein Blick auf die geschwollene Hand und die blutig aufgeplatzten Knöchel gerichtet. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schrie seine Hilflosigkeit in die Nacht hinaus.

    Ihr Zimmer. Sie hatte nichts da für ihre Sucht. Stattdessen suchte sie alles Alkoholische zusammen was die Wohnung hergab. Sie betranken sich hemmungslos. Alles drehte sich. Er konnte weder stehen noch sitzen noch liegen. Schließlich fand er sich kniend vor der Toilette wieder, in der sich Erbrochenes mit Tränen mischte.

    Irgendwann. Er saß in seinem Keller. Eine grüne Metallbox, abschließbar, in der alles lag was ihm noch von ihr geblieben war. Der Flummi, Briefe, eine kleine transparente Tüte mit einer Spritze. Er hielt sie hoch. Reste getrockneten Blutes waren darin zu sehen, ein Teil von ihr. Kürzlich erzählte ihm ein Freund von einem Unfall, bei dem zwei Menschen von einer U-Bahn erfasst worden waren. Er dachte an ein Leben voller Möglichkeiten, an ein bezauberndes Lächeln...das auf schmutzigen Gleisen jäh endete. Und mit ihr starb auch ein Teil von ihm.


    Anonymous

    • Gast
    Wirklich sehr schön geschrieben! :)
    Mehr kann ich dazu nicht sagen...


    Offline ap

    • Untoter russischer Satanofaschist aus dem Weltraum!
    • Die Großen Alten
      • PARENTAL ADVISORY: Explicit Lyrics
        • Show only replies by ap
      Das ist Poesie. Düster und traurig, aber schön.  8)



      Anonymous

      • Gast
      Zitat von: "nemesis"
      Danke...


      BITTE! 8)  ;)


      Anonymous

      • Gast
      ein sehr berührender, schöner text.  

      manchmal muss man froh sein, wenn man sich selbst retten kann.

      Oliver


      Offline Bloodsurfer

      • diagonally parked in a parallel universe...
      • Administrator
      • *****
        • Pfälzer mit saarländischem Migrationshintergrund
          • Show only replies by Bloodsurfer
        Die Geschichte ist wirklich sehr schön und ergreifend geschrieben. Richtig traurig, verzweifelt, aussichtslos, hoffnungslos.
        Aber sehr gut!


        Anonymous

        • Gast
        Eine sehr schön geschriebene Story, nemesis.

        Bitte mehr davon. Sehr ergreifend, und einfach gut geschrieben.


        Offline Necronomicon

        • Moderator
        • *****
            • Show only replies by Necronomicon
          Liest sich echt schön geschmeidig  ;)

          An wen erinnert mich diese Art zu schreiben ? Alleine das Zitat "Die Katze zieht ihre Bahnen.." kommt mir irgendwoher bekannt vor .... Berthold Brecht ?  :D


          Anonymous

          • Gast
          Hey nemesis,wie wäre es wenn du für uns ein Buch schreibst???
          Aber bitte mit Autogramm! 8)


          Offline nemesis

          • In der Vergangenheit lebender
          • Die Großen Alten
            • Videosaurier
              • Show only replies by nemesis
            Mit Brecht hatte ich nie viel am Hut. Ich schreibe so wie ich bin...wie sagte kürzlich ein Freund...authentisch.