Review: GEFÄHRLICHE GELIEBTE (Haruki Murakami)

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Lionel

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http://www.amazon.de/Gef%C3%A4hrliche-Geliebte-Haruki-Murakami/dp/3442727952/ref=pd_bbs_sr_1?ie=UTF8&s=books&qid=1205762131&sr=8-1


Aus der Amazon.de-Redaktion
Der Traum von der absoluten Perfektion macht augenscheinlich auch gestandenen Autoren in beruhigender Regelmäßigkeit zu schaffen: "Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah" -- das hatte der mit allen wichtigen Literaturpreisen seines Landes ausgezeichnete Japaner Haruki Murakami in seinem gleichnamigen Erzählband bereits geschildert.

Jetzt taucht sie wieder auf, die hundertprozentige Frau: Sie hört auf den Namen Shimamoto und wird sich im Laufe des Romans mehr und mehr als Gefährliche Geliebte erweisen. Vorerst aber ist sie ein zwölfjähriges Mädchen "mit ausdrucksvollen Gesichtszügen" und einem steifen linken Bein; und diese Spätfolge einer Kinderlähmung kann Haruki Murakami eben wirklich so beschreiben, als ob Gehfehler von jeher der Inbegriff der Erotik wären!

Shimamoto also ist die erste Liebe des Ich-Erzählers Hajime: Gemeinsam bestreiten sie den leidigen Schulweg und führen sich Nat King Cole und Bing Crosby aus der elterlichen Plattensammlung zu Gemüte. Ein Mal hält -- es ist dies der unerhörteste Moment jener unschuldigen Kinderliebe -- Shimamoto für zehn Sekunden Hajimes Hand; und so etwas bleibt, nachdem man sich längst aus den Augen verloren hat, ja dann immer als tiefe Sehnsucht gegenwärtig.

Erst an der Schwelle zur Midlife-Crisis treffen die beiden sich wieder: Hajime ist inzwischen ein glücklich verheirateter Familienvater und Inhaber zweier gepflegter Jazz-Bars; er hat sich in einer -- sagen wir: achtzigprozentigen -- Realität eingerichtet, und Shimamoto rüttelt nachhaltig am Fundament. Dabei bleibt sie ein vollendetes Mysterium, was sich vor allem darin äußert, dass sie bei nahezu jedem Auftritt -- und für meinen Geschmack eben etwas zu oft -- vielsagend lächelt.

Ansonsten aber hat Murakami das allgegenwärtige gedankliche Kreisen um verpasste Gelegenheiten, um die hundertprozentige Leidenschaft und die so viel weniger anstrengende Durchschnittsrealität in gewohnter Meisterschaft -- subtil und überaus fesselnd -- erzählt.
--Christine Wahl




Das Buch wird aus der Sicht des Protagonisten Hajime erzählt. Es beginnt in seiner Jugendzeit, schildert wie er mit einem Mädchen, zu dem er eine Verbindung spürte wie später nie wieder zu einem anderen, bis zu seinem zwölften Lebensjahr seine Tage verbringt. Sexuelle Gefühle sind noch nicht erwacht, doch nie wird er dieses Mädchen - Shimamoto - vergessen können, mit dem er an regnerischen Tagen Bing Crosby Platten hörte und bei dem er sich so wohl fühlte wie bei keinem anderen Menschen zuvor oder danach. Nachdem beide auf getrennte Schulen gehen, verliert sich der Kontakt. Jahre später hat Hajime seine erste Freundin, Itsumi. Nachdem sie zögert, mit ihm zu schlafen, betrügt er sie mit ihrer Cousine - und fügt ihr irreparablen Schaden zu, ein Trauma fürs Leben. In den Jahren von 22-30 lebt Hajime ein leeres, unerfülltes Leben. Hat kürzere Beziehungen oder One-Night-Stands, aber fühlt sich wie ein Vakuum. Dabei denkt er jeden Tag an Shimamoto. Der Job als Lektor bei einem Schulbuchverlag ödet ihn ebenfalls mehr an, als ihm lieb ist. Die Abende und Nächte verbringt er allein in der Küche, Whisky konsumierend.
Bis er eines Tages Yukiko trifft. Er verliebt sich in sie, heiratet, bekommt zwei Kinder und macht eine Cocktailbar auf, ein Job, in dem er voll und ganz aufgeht. Sein Leben könnte besser nicht sein. Bis Shimamoto eines Tages wie aus dem Nichts auftaucht, mysteriös wie ein Geist. Jahre zuvor meinte er ebenfalls sie gesehen zu haben, verlor sie jedoch aus den Augen..als ein Mann auf ihn zutrat und ihm einen Umschlag mit Barem in die Hand drückte und ihn aufforderte, die Begegenung zu vergessen. Wie sich herausstellt, war das damals ebenfalls Shimamoto. Welches Geheimnis umgibt diese Frau? Und was will Hajime wirklich? Die längst verloren geglaubte Liebe zu einem Seelenverwandten oder das Leben mit Frau und Familie?

Das Buch kommt als typische Murakamiwerk daher, erinnert inhaltlich und stilistisch an "Naokos Lächeln". Die Charaktere Murakamis sind immer rastlos, immer auf der Suche nach sich selbst, nach einer Möglichkeit ihr Verlangen nach Zufriedenheit im Leben zu stellen. Die perfekte Frau, das perfekte Leben. Tragik und Schicksal. Und so ist auch dieses Buch um einiges aufregender und unterhaltsamer als es der Inhaltsangabe nach klingt. Übersinnliche oder surreale Elemente wie in "Kafka am Strand" sucht man hier vergebens, viel mehr handelt es sich um eine bodenständige Geschichte, wie aus dem Leben gegriffen und man merkt: hey, das reicht, das ist schon Unterhaltungswert, Tragik und Spannung genug! Genauso wie dies schon bei "Naokos Lächeln" funktioniert hat.
Hajime kommt, nachdem er monatelang jeden Tag Zeit mit Shimamoto hinter dem Rücken seiner Frau verbringt, letztlich zu dem Entschluss, seine Familie zu verlassen und mit Shimamoto zusammen zu leben. Doch er weiß nichts über ihr Leben, wie es seit ihrem zwölften Lebensjahr weiter verlaufen ist. Er weiß nur, dass sie sich einer komplizierten Operation unterzogen hat, die ihren Gehfehler behob, noch nie in ihrem Leben gearbeitet hat, aber dennoch in Geld zu schwimmen scheint, ihr Kind bei der Geburt verloren hat - und dass sie unter mysteriösen Umständen immer wieder - für Monate - verschwindet. Doch diese rätselhaften Beweggründe werden offen bleiben, Murakami macht sie nicht zum Thema seines Buches, auch wenn er dies dem Leser das ein oder andere Mal vorzugaukeln versucht.
Als Shimamoto wieder mal verschwindet - dies ist die Zeit, in der sich Hajime für sie entscheidet - bricht er völlig zusammen. Er versucht sich durch seine Arbeit abzulenken, plant Neuerungen für seine Bar, geht ins Fitnessstudio, schwimmt Unmengen von Bahnen ab - nur um nicht durchzudrehen. Und hier kann man sich wieder bestens in Hajimes verwirrten Kopf  - sein nach Glück suchendes Herz - hineinversetzen...eine Geschichte, wie sie jeder kennt, wie Leben und Realität sie schreiben. Er weiß, dass er Yukiko genauso verletzen wird wie Itsumi damals - und kann doch nicht anders. Und wie ein Sinnbild aus der Vergangenheit, taucht auch Itsumi - verbittert und vom Leben enttäuscht - wieder auf (soll aber keine größere Rolle spielen).
Als er schließlich mit Shimamoto schläft und ihr ewige Treue schwört - verschwindet diese wieder. Und Hajime kommt ins Grübeln...wäre es nicht doch die richtige Entscheidung bei seiner Frau zu bleiben, die er liebt und die ihn liebt..?

Ein Appell an Kopf und Herz, ein Aufruf für Ehe und Treue - könnte man interpretieren. Mir hat das Buch sehr gut gefallen, Murakami kann einfach kein schlechtes Werk abliefern. Wenngleich ich es schlechter empfand als "Naokos Lächeln". Mit "Kafka am Strand" kann man es ohnehin nicht vergleichen, das Buch fällt thematisch völlig aus der Reihe. Die leider nur knapp etwas über 200 Seiten (recht dünn für Murakami Verhältnisse) vergehen jedenfalls wie im Flug und gelangweilt hab ich mich auch nie. Von meiner Seite aus gibt es auch hier eine dicke Empfehlung!


Offline Bloodsurfer

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    Online Thomas Covenant

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      Absolute Weltklasse  :!: Ranitzki ist eine Wildsau. Nur immer wenn ich ihn und den Karasek höre will ich am liebsten einen Putzeimer holen. Die klingen immer so speichelnd und sabbernd.  :biggrin:


      Offline Bloodsurfer

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        Da haste Recht ;) Mich wundert aber wirklich dass das niemand schon früher gepostet hat, ich habs jetzt wirklich erst ziemlich spät und mehr zufällig gefunden...