TCs BUCHREGAL - DIE WOHLGESINNTEN von JONATHAN LITTELL

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Ich hab ihn in der hiesigen Bibliothek vorbestellt - krieg ich mit viel Glück so ca. Mitte April. Bevor ich 40 Teuronen investiere, muss ich das Buch erst mal genauer in Augenschein nehmen und zumindest stellenweise mal reinlesen... Bin gespannt. Aber nachdem ich mich in den letzten Jahren ausgiebig mit dem Thema Holocaust und den Gräueltaten der Nazis beschäftigt habe und auch einiges aus erster Hand bei persönlichen Treffen mit einem Holocaust- und KZ-Überlebenden erfahren habe, glaub ich nicht, dass mich der Roman jetzt derart schocken wird. Ich denke, dass ich ihn wohl eher als Belletristik mit Holzhammereffekt betrachten werde, nicht aber als Buch, das allzu viel neue Erkenntnisse vermitteln wird. Natürlich kann ich mich täuschen, aber ich werde auf jeden Fall die nötige Distanz zu Littels angeblicher(gewalt-)pornographischer Fantasie zu wahren wissen.

Der Lonewolf Pete

     



Auch ich habe mir nun den Jonathan Littel angetan - und muss sagen, dass ihm die negativen Kritiken und jene Kritiker, die ihn ob seiner gewaltorgien und pornographischen Segmente gnadenlos verrissen, Unrecht tun.

Ich würde das Buch nicht, um es vorweg zu sagen, als Meisterwerk bezeichnen (ich tu mir da ohnehin schwer), und ich würde den Roman auch nicht als "Jahrtausendroman" bezeichnen, wie es jemand bei Amazon tat.

Aber - der Roman ist ein ungemein wichtiges Buch. Er öffnet all jenen, denen sich die ungeheure Massenvernichtungs-Maschinerie der Nazis bislang nicht so richtig erschlossen hat, die Türen und vor allem die Augen. Mit einer Kaltschnäuzigkeit, die ihresgleichen sucht, beschreibt Littell distanziert und betroffen zugleich, wie generalstabsmäßig auf dem Reißbrett bzw. beim Dinieren die systematische und kosteneffektive Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde und nachher auch durchgeführt wurde. Littells Hauptfigur ist an allen Gräueltatorten zugegen, und bei aller als Sensationshascherei anmutenden Schilderung schafft es Littel doch immer wieder, glaubwürdig die Abscheu zu schildern, die in der Hauptperson angesichts der systematischen Massenmord-Maschinerie aufkommt. Letztlich aber reduziert Littell die Beweggründe der eigentlichen Mörder, jener Männer, die den Finger am Abzug hatten, die das Zyklon B in die Schächte der Gaskammern einfüllten und die Türen der Gaskammern schlossen, jener Männer, die ihre Opfer prügelten und misshandelten bis aufs Blut, auf die Ebene, die Dutzende Psychologen schon in den vergangenen Jahren diesen Mördern bescheinigten - dass sie aus krankhaft sexuell gesteuerten bzw. begründeten Motiven handelten.

Lässt man die vergleichsweise wenigen und bei weitem nicht so drastischen (wie von der Kritik angekreidet) Gewaltdarstellungen und die sexuellen Fantasien beiseite, ist die Kälte, die Emotionslosigkeit und die nüchterne Darstellung der Planung des Massenmords und der Nazi-Hierarchie und -Ideologie allein schon dazu angetan, dem nicht ganz so abgebrühten Leser eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken zu jagen.

Das Buch ist keines, das man als Urlaubslektüre empfehlen kann. Es dient auch nicht der Entspannung. Und für Leute, die harte und härtsete Sachen gewöhnt sind (so wie ich), sind auch die Gewaltdarstellungen und sexuellen Schilderungen eher harmlos (die Darstellung der Nazi-Massaker in Dan Curtis' TV-Verfilmung von Herman Wouk's "Feuersturm und Asche" waren z.B. bei Weitem schlimmer als das, was Littell in seinem Roman beschreibt). Aber die Härte ist ja auch nicht Sinn und Zweck dieses Romans, sondern die Aufklärung und die Verdeutlichung der Nazi-Verbrechen. Und wer das Buch nur lesen würde, um posthum Zeuge der schlimmsten Nazi-Verbrechen zu werden und auf graphische Darstellung hoffen, wäre sowieso krank.

Daher glaube ich, dass sich die Mehrzahl der Kritiker, die sich an den Gewaltdarstellungen erbost haben, kaum mit dem Thema Holocaust eingehend befasst haben und wohl zum ersten Mal mit relativ "harter" und drastischer Literatur konfrontiert wurden.

Für mich ist das Buch eher eines von vielen zum Thema, das mir Informationen lieferte und auch eine noch deutlichere Sichtweise zum Thema Holocaust / Naziverbrechen, aber es ist kein Buch, das ich mir (zumindest für diesen Wahnsinnspreis) in den Bücherschrank stellen würde, um es nochmals zu lesen. Als eingefleischter Pulp Fiction Fan würde dieser Roman sowieso nicht in meine Sammlung passen, aber es war mir wichtig, das Buch gelesen zu haben.

Und all jenen unter euch, die sich mit der Thematik erstmals oder nochmals eingehend befassen möchten / müssen, sei der Roman auf jeden Fall empfohlen.

Alle anderen, denen sowas zu schwer ist und die lieber bei der Pulp Fiction Unterhaltung bleiben möchten, sei an dieser Stelle gesagt, dass es in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts tatsächlich ein "Meisterwerk" der Pulp Fiction Literatur gab - ein Meisterwerk, das sich über weit mehr als 100 Bände zog und von einem Amerikaner namens Lester Dent geschrieben worden war - und dessen Held durfte sogar, man staune, gegen die Nazis kämpfen. Selbstredend erschienen diese betreffenden Nazi-Romane nicht in Deutschland. Der Name des "meisterhaften" Helden? Clark (nee nicht Superman) Savage Jr. Von seinen Freunden DOC SAVAGE genannt. Von seinen Feinden "Der Bronzemann" genannt. Von Lester Dent so meisterhaft geschrieben, dass er in jedem Roman Wörter benutzte, bei denen selbst die Amis Webster's Enzyclopedia oder den Thesaurus brauchten, um sie nachzuschauen.

DAS war ein Meisterwerk. Aber das ist eine andere Geschichte und gehört auch an eine andere Stelle. Weil diese Romane unterhaltsam sind.

Jonathan Littel's Roman ist es nicht. Und will es auch nicht sein. Und gerade deswegen sollte man ihn sich ruhig auch mal antun.

Der Lonewolf Pete