09.08.2012
Russische Bunker-Sekte Gefangen unter der Erde
Von Annette Langer
Im russischen Kasan haben sich Dutzende religiöse Fanatiker jahrelang mit ihren Kindern in einem unterirdischen Verlies versteckt - angeblich aus Angst vor dem Weltuntergang. Dann drang die Polizei, die in der Region gegen Islamisten ermittelt, zum Bunker vor.
Über der Erde ein schäbiges Haus, darunter ein achtstöckiges abgeschottetes Kalifat voller vernachlässigter Kinder und verwirrter Erwachsener: In dem russischen Dorf Torfjanoj bei Kasan haben Sicherheitskräfte den Rückzugsort einer muslimischen Sekte ausgehoben. Allein 27 Minderjährige mussten jahrelang in dem unterirdischen Zellensystem ausharren - ohne natürliches Licht, ausreichende Luftzufuhr und ärztliche Versorgung. Das jüngste Kind war gerade mal ein Jahr und sieben Monate alt.
"Viele Kinder lebten seit ihrer Geburt unter der Erde und leiden unter chronischen Mangelerkrankungen", sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Die hygienischen Zustände seien desolat gewesen. Besonders verwundert habe die Ermittler die Haltung der Eltern zu den menschenunwürdigen Lebensumständen. "Sie sind der Meinung, ihre Kinder lebten unter normalen Bedingungen."
Vor dem weißen Steinhaus mit angeschlossenem Minarett weht noch immer eine grün-weiß-schwarze Flagge. Den Behörden zufolge ist das Privatgebäude nicht offiziell als Moschee oder Gebetshaus eingetragen. Dennoch tummelten sich in dem unterirdischen Ameisenhaufen viele Gläubige. "Derzeit leben in unserer Gemeinschaft 70 Menschen, das macht drei Personen auf einem Quadratmeter", berichtete ein Sektenmitglied in hellgrünem Gewand und Turban dem Nachrichtenportal lifenews-ru, "aber dies ist unser eigener Staat und wir bestimmen, wer wie lebt", fügte er hinzu.
"Wir", das sind die "Faisrachmanisten", die sich nach dem Vornamen ihres Anführers Sattarow so nennen, er soll Anhänger in ganz Tatarstan haben. Unter dem Vorwand, der Weltuntergang in Form eines gigantischen Erdbebens stünde kurz bevor, hatte sich die Gruppe ab 2000 von der Welt zurückgezogen und in ihrem Bunker versteckt. "Wir warten auf den Tag der Abrechnung und wenn er kommt, wird nur unser Gelände heil und unversehrt bleiben, weil wir frei vom Bösen sind", deklamierte der selbsternannte Prophet. Seine Jünger folgten ihm in den Untergrund.
Jetzt muss sich die ominöse Truppe wegen Kindesvernachlässigung und -misshandlung vor Gericht verantworten, die Anführer zudem wegen "Willkür", was mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. Die Kinder wurden in Heimen und einem Krankenhaus untergebracht. Wie der Sender 5-tv.ru berichtet, sollen einige Väter versucht haben, sie über ein Fenster aus dem Krankenhaus zu entführen. Seitdem habe man Wachposten in der Klinik aufgestellt.
Der falsche Prophet
Bereits in den sechziger Jahren soll Sattarow, laut eigener Aussage Jahrgang 1929, die Sekte ins Leben gerufen haben. Er rief sich selbst zum Propheten aus, berichtete von Heilsbotschaften und ekstatischen Visionen. Nebenbei sammelte er von seinen Adepten Almosen ein und verbreitete seine Botschaft in Büchern.
1996 kaufte er das etwa 700 Quadratmeter große Gelände am Stadtrand von Kasan. Im Angesicht der das Haus stürmenden Staatsmacht hatten die Gläubigen am vergangenen Freitag noch versucht, Gasflaschen zu Nahkampfwaffen umzufunktionieren und sich zu wehren. Sie wurden jedoch schnell überrumpelt. Es seien weder Waffen noch Drogen in dem Komplex gefunden worden, sagte ein Polizeisprecher, dafür über tausend Bücher mit offenbar extremistischen Inhalten.
Erst vor wenigen Jahren hatte eine Weltuntergangssekte im russischen Pensa für Aufregung gesorgt. Dort hatten etwa 30 Fanatiker mit Kindern in einem unterirdischen Tunnelsystem vor sich hin vegetiert. Handelt es sich bei den "Faisrachmanisten" um einen vergleichbaren Haufen Verwirrter, die einem raffinierten Verführer erlegen sind? Oder muss man davon ausgehen, dass Sattarow ein gefährlicher Extremist ist?
"Die Lehren des Herrn Sattarow werden von traditionellen Muslimen zurückgewiesen", sagte der in Kasan ansässige Theologe Rais Suleimanow. "Dem Islam zufolge gibt es keinen anderen Propheten als Mohammed."
Suleimanow hatte im Juli einen Bericht veröffentlicht, in dem er über die militanten Islamisten in Tatarstan berichtet. Diese scheuten sich nicht, unverhüllt und bewaffnet in Propaganda-Videos für den wahhabitischen Untergrund zu werben. Im Jahr 2010 wurde in einem abgelegenen Dorf in Nurlatskij-Distrikt ein Trainingslager mit zahlreichen Waffen ausgehoben: "Es gibt den bewaffneten wahhabitischen Untergrund in Tatarstan, kein Zweifel."
"Alles auf Gewinn ausgerichtet"
"Diese Sekte ist nicht islamisch", sagte der Stellvertreter des örtlichen Muftis, Waliulla Jakupow, im Jahr 2007 dem Nachrichtendienst Regnum. "Wie bei allen totalitären Strömungen ist dort alles auf Gewinn ausgerichtet, den der Sektenführer einstreicht." Laut Jakupow war der Entschluss der "Faisrachmanisten", in den Untergrund zu gehen, nur der Schrei nach Aufmerksamkeit.
Am 19. Juli wurde der prominente Geistliche Jakupow mitten in Kasan auf offener Straße erschossen. Er hatte nicht nur die ominöse Sekte, sondern auch die zunehmende Radikalisierung der islamischen Gläubigen in Tatarstan scharf kritisiert. Sein Chef, der örtliche Mufti Ildus Faisow, wurde nur einen Tag später Opfer eines Anschlags: Eine Autobombe verletzte ihn schwer an den Beinen. Der Geistliche ist seit 2011 im Amt und hat sich seitdem Feinde gemacht, weil er mehrere ultrakonservative Glaubensbrüder entließ sowie religiöse Schriften aus Saudi-Arabien verbot. Die Polizei nahm fünf Tatverdächtige fest. Noch ist völlig unklar, ob die Attentate in Verbindung mit der Sekte stehen, auch wenn die Räumung des Bunkers im Zusammenhang mit den Ermittlungen stand.
Kasan, wo 2005 die größte Moschee Europas eröffnet wurde, gilt als Zentrum des Islam in Russland. Der Salafismus ist auf dem Vormarsch, Radikale aus dem Kaukasus, vor allem Tschetschenien, befeuern diese Entwicklung. Im vergangenen Jahr gab der Führer der tschetschenischen Extremisten, Doku Umarow, ein Dekret heraus, in dem er seine Glaubensbrüder dazu auffordert, verstärkt in der bevölkerungsreichen Wolga-Region aktiv zu werden. Der islamische Theologe Farid Salman geht laut BBC davon aus, dass es mindestens 3000 radikalisierte Gläubige in Tatarstan gibt.
Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass die radikalen Muslime von der organisierten Kriminalität unterstützt werden. So sollen Schutzgelderpresser unter dem Vorwand, Almosen sammeln zu wollen, Geld für militante Dschihad-Kämpfer eintreiben. Auch würden nicht-islamische Kaufleute dazu gezwungen, eine "Ungläubigensteuer" zu berappen, berichtete der Theologe Rais Suleimanow.
Die 1,3-Millionen-Metropole ist berüchtigt für ihre brutalen Mafia-Gangs. Bereits in den siebziger Jahren formierten sich hier gefürchtete Jugendbanden, die sich später professionalisierten und bis nach St. Petersburg vordrangen. Damals sprach man vom "Kasaner Phänomen".
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/faisrachmanisten-russische-bunker-sekte-in-kasan-a-849134.html