http://www.amazon.de/Kafka-am-Strand-Haruki-Murakami/dp/3442733235/ref=pd_bbs_sr_1/303-2141630-8614603?ie=UTF8&s=books&qid=1186566994&sr=8-1Der 15-jährige Kafka Tamura reißt von zu Hause aus, da er sein Dasein nicht mehr ertragen kann. Sein Vater ist ihm tiefst zuwider, er hat keinerlei Verbindung zu ihm. Seine Mutter hat ihn verlassen als er ein kleiner Junge war und seine Schwester mitgenommen. Einen Grund weiter im Tokioter Distrikt Nakano zu bleiben, gibt es für Kafka nicht. Er beschließt nach Kawamatsu auf der Insel Shikoku zu gehen. Warum weiß er nicht. Aber es zieht ihn dort hin. Genauso gut hätte er nach Kobe oder sonstwohin gehen können, doch etwas in seinem Inneren leitet ihn. Stets ist er im Zwiegespräch mit seiner inneren Stimme, "Krähe". Kafka ist tschechisch und bedeutet Krähe, wie wir später erfahren werden. In Kawamatsu angekommen, sucht er sich ein Hotel und besucht jeden Tag die private Bibliothek der Stadt. Bücher sind seine Welt, darin kann er sich verlieren. Während Kafka sein Abenteuer in Kawamatsu bestreitet, ist der ältere geistig behinderte Nakata auf der Suche nach der verschwundenen Katze Goma. Seit einem Unfall in seiner Kindheit ist Nakata geistig zurückgeblieben, hat aber die Fähigkeit mit Katzen zu kommunizieren und nimmt Aufträge an, verschwundene Tiere wieder zu finden. Als er auf den geheimnisvollen Katzenmörder Johnnie Walker trifft, der streunende Katzen brutal tötet, um eine Zauberflöte daraus zu bauen, und diesen im Affekt tötet, ist er auf der Flucht vor der Polizei - und auf der Suche nach innerer Erfüllung. Gemeinsam mit dem jungen LKW-Fahrer Hoshino macht er sich auf nach Kawamatsu, in der Hoffnung dass alles gut wird. Die Stationen von Kafka und Nakata kreuzen sich, ohne dass sie sich je begegnen. Wo besteht die Verbindung? Und was hat es mit dem geheimnisvollen Fluch auf sich, den Kafkas Vater seinem Sohn auferlegt hat, dass er wie einst der thebanische König Ödipus seinen Vater töten und mit seiner Mutter und Schwester schlafen würde? Ein Fluch, vor dem Kafka bereits sein ganzes Leben flüchtet. Als Kafkas Vater tatsächlich ermordet wird und Kafka auf die geheiminisvolle Bibliotheksleiterin Saeki trifft, eine Frau Mitte 50, die tatsächlich seine Mutter sein könnte und die er begehrt, gerät die Situation außer Kontrolle. Vor allen Dingen wenn man bedenkt, dass Kafka am Tag des Mordes mit einem Blackout im Wald aufwacht, sein Hemd blutverschmiert, die Erinnerung an das zuvor Geschehene verblasst. Traum und Realität verschwimmen, aber am Ende muss das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt werden. Und wenn es im Traum geschieht...
Das ist jetzt wirklich nur eine sehr grobe Inhaltsangabe. In dem Buch kommen so viele Details und Wendungen vor, dass man wohl 5-6 Seiten schreiben müsste, um den Leser vollständig ins Bild zu rücken. Soll aber ja auch nicht Sinn der Sache sein, denn, vorab gesprochen: Das Buch ist eine Bombe und die knapp 640 Seiten werden zu keiner Sekunde langweilig und sollten von jedem geneigten Leser schnellstmöglich konsumiert werden. Allerdings muss ich eine Warnung aussprechen, denn jedermanns Sache wird es sicher nicht sein. Der Schreibstil ist eher typisch japanisch, äußerst poetisch und deskriptiv, Dialoge gibt es nicht so viele, und wenn doch, dann äußerst beiläufig, sachlich und kurz. Man erkennt viele Versatzstücke aus japanischen Filmen wieder, die auch eher mit Bildersprache und auf sparsamer Diskursebene funktionieren. Man denke nur an die enorme visuelle Kraft von Kitanos Strandmotiven, die faszinierende Unaufgeregtheit in "19" oder die verspielte träumerische Eleganz in "Kikujiros Sommer". In eine ähnliche Kerbe schlägt das Buch - zum Teil. Denn wo in Kitanos kinderkompatiblen Roadmovie Humor und Alles-wird-gut-Stimmung vorherrschen, bietet uns Murakami hier von allem etwas. Auch Humor, aber eher wenig. Stattdessen sieht sich der Leser hier auch mit erotischen Fantasien konfrontiert, hart an der Grenze zur Pornographie - wobei dieser Aspekt nie überhand nimmt, unpassend oder unangenehm wirkt. Auch die ein oder andere "Splatter"-Szene kommt vor (vor allem beim Abschlachten der Katzen oder dem Mord an Johnnie Walker), ich schreibe das bewusst in Anführungszeichen, da das Buch mit Horror oder Splatter ungefähr so viel zu tun hat wie Boris Becker mit dem Papst. Was ich letztlich damit sagen will, ist, dass das Buch sicher kein Kinderbuch ist, sondern genügend Elemente beinhaltet, die den geneigten erwachsenen Leser bei der Stange halten. Um einen Eindruck von dem faszinierenden, verträumten, typisch japanischen Schreibstil zu geben, eine Kostprobe, irgendwo zwischen Melancholie und Nihilismus:
Hin und wieder hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm, der unablässig die Richtung wechselt. Sobald du deine Laufrichtung änderst, um ihm auszuweichen, ändert auch der Sturm seine Richtung, um dir zu folgen. Wieder änderst du die Richtung. Und wieder schlägt der Sturm den gleichen Weg ein. Dies wiederholt sich Mal für Mal, und es ist, als tanztest du in der Dämmerung einen wilden Tanz mit dem Totengott. Dieser Sturm ist jedoch kein beziehungsloses Etwas, das irgendwoher aus der Ferne heraufzieht. Eigentlich bist der Sandsturm du selbst. Etwas in dir. Also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden und, so gut es geht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, Augen und Ohren fest zu verschließen, damit kein Sand eindringt, und dich Schritt für Schritt herauszuarbeiten. Vielleicht scheint dir auf diesem Wege weder Sonne noch Mond, vielleicht existiert keine Richtung und nicht einmal die Zeit. Nur winzige, weiße Sandkörner, wie Knochenmehl, wirbeln bis hoch hinauf in den Himmel. So sieht der Sandsturm aus, den ich mir vorstelle.
[...]
Natürlich kommst du durch. Durch diesen tobenden Sandsturm. Diesen metaphysischen, symbolischen Sandsturm. Doch auch wenn er metaphysisch und symbolisch ist, wird er dir wie mit tausend Rasierklingen das Fleisch aufschlitzen. Das Blut vieler Menschen wird fließen, auch dein eigenes. Warmes, rotes Blut. Du wirst dieses Blut mit beiden Händen auffangen. Es ist dein Blut und das der vielen.
Und wenn der Sandsturm vorüber ist, wirst du kaum begreifen können, wie du ihn durchquert und überlebt hast. Du wirst auch nicht sicher sein, ob er wirklich vorüber ist. Nur eins ist sicher. Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt, ist nicht mehr derjenige, der durch ihn hindurchgegangen ist. Darin liegt der Sinn eines Sandsturms.Oder:
Ständig lauert die Prophezeiung wie ein dunkles, trübes Gewässer.
Noch lauert sie unheimlich an irgendeiner unbekannten Stelle. Aber wenn die Zeit kommt, wird sie lautlos überfließen, deine Zellen eine nach der anderen kalt durchdringen, und du wirst in dem Gefühl, gleich in dieser grausamen Flut zu ertrinken, nach Luft ringen. An einem Luftschacht an der Decke wirst du kleben und in Panik nach der frischen Luft im Freien schnappen. Aber die Luft, die du einsaugst, ist heiß und trocken und verbrennt dir die Kehle mit ihrer Hitze. Mit vereinten Kräften fallen die Extreme Wasser und Trockenheit, Kälte und Hitze gleichzeitig über dich her.
Auf der ganzen Welt findet sich nirgends ein Ort, der dir Zuflucht bieten kann - obwohl schon das kleinste Eckchen genügen würde. Suchst du die Stimme der Prophezeiung, herrscht nur tiefes Schweigen. Doch kaum suchst du das Schweigen, dröhnt sie unablässig, Als hätte jemand auf einen geheimen, in deinem Kopf versteckten Knopf gedrückt.
Dein Herz gleich einem großen, von langem Regen angeschwollenen Fluß. Alle Orientierungspunkte sind restlos in seinen Fluten verschwunden, vielleicht schon an irgendeinen dunken Ort davongeschwemmt. Immerfort prasselt der Regen auf den Fluss. Und sooft du in den Nachrichten eine überflutete Landschaft siehst, denkst du: Ja, genauso sieht es in meinem Herzen aus.
"Kafka am Strand" beginnt mit 3 abwechselnd ablaufenden Handlungssträngen. Zum einen Kafkas Vorbereitungen zum Aufbruch, das Erläutern seiner Vergangenheit und seiner Gefühlswelt. Dann - wie bereits erwähnt - Nakatas Suche nach der Katze Goma, seiner Begegnung mit Johnnie Walker und seiner weiteren Reise. Der dritte Strang, der relativ schnell abgehandelt wird, besteht aus Verhören des Militärs aus den 1940er Jahren, kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs. Damals hat sich in einem Wald irgendwo in Japan ein seltsames Phänomen abgespielt. Eine (Grundschul)Lehrerin ging mit ihrer Klasse in den Wald, um einen Ausflug zu machen und Pilze zu sammeln. Wie aus heiterem Himmel erlagen jedoch alle Schüler, nach und nach, zum Teil aber auch gleichzeitig, einer Ohnmacht. Die Bewusstlosigkeit konnte nie erklärt werden. Der einzige Junge, der damals nicht sofort wieder aufwachte und nach einem langen Koma eine geistige Behinderung erlitt, in der Form, dass er sich an nichts mehr erinnerte, weder lesen noch schreiben konnte, war der kleine Nakata - der Protagonist aus der Gegenwart, der in der Lage ist mit Katzen zu kommunizieren. Befragt wurden die Lehrerin, der behandelnde Arzt, ein Polizeibeamter und sechs Schüler. Bis heute lassen sich die Vorkommnisse nicht erklären, wenngleich die Lehrerin in einem späteren Brief an den Arzt mitteilt, dass sie mehr wusste als sie zugab.
Der Handlungsstrang, der um Kafkas Geschichte geht, nennen wir ihn ruhig Haupthandlungsstrang, wird in der Gegenwart erzählt und aus der Ich-Erzähler-Position. Dadurch wird auf narrativer Ebene eine extreme Realitätsnähe erzeugt, der Diskurs scheint geradezu greifbar. Genauso auf inhaltlicher Ebene: Murakami erzählt "hautnah", Details gibt es für ihn nicht bzw. die ganze Geschichte besteht nur aus Details. Man hat das Gefühl als wäre man Kafka selbst, als würde man ihn 24 Stunden am Tag begleiten. Ein mal mehr also das Phänomen der Beiläufigkeit, man isst, man duscht, man liest, man geht auf die Toilette u. s. w. Viele werden diesen Stil langweilig finden, andere wiederum faszinierend und spannend - zu letzterer Kategorie darf ich mich zählen.
Nakatas Handlungsstrang hingegen wird in der 3. Person Singular sowie in der Vergangenheit erzählt - obwohl zeitlich beide Stränge parallel ablaufen. Ein klares Zeichen der Hierarchie der einzelnen Geschichten, die letztlich doch zu einer zusammengeführt werden und nie für sich alleine standen.
Geradezu genial finde ich die surreale Komponente in Murakamis Schaffen. "Verantwortung entsteht bereits im Traum." Damit will Murakami sagen, dass das Unterbewusstsein und Bewusstsein untrennbar miteinander verbunden sind, in unseren Träumen werden Ängste und Wünsche in die Realität projeziert. Und bereits in unseren Träumen können wir uns schuldig machen, indem wir unmoralische Handlungen vornehmen, oder uns profilieren, indem wir das Richtige tun. Als Kafka auf seinem Weg die attraktive Sakura kennen lernt, denkt er sofort, das könne seine Schwester sein. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwar nahezu bei Null, aber es liegt im Bereich des Möglichen. Als er in einem erotischen Traum mit ihr schläft, stets im Hinterkopf, dass sie seine Schwester sein könnte, begeht er eine moralisch verwerfliche Handlung, die sich in die Realität projeziert. Der Hintergedanke Kafkas dabei ist, den Fluch, der ihm von seinem Vater auferlegt wurde, loszuwerden. Auch Saeki, die Bibliotheksleiterin, die einst ihren Geliebten verlor und seitdem ihr Leben aufgegeben hat, ist Bestandteil von Murakamis bzw. Kafkas Traumwelt. Kafka, der Unterschlupf in ebendieser Bibliothek findet wo er wohnen und arbeiten kann, erscheint jede Nacht der Geist der 15-jährigen Saeki. Letztlich begehrt Kafka beide, das Mädchen in seinem Alter und die "reale" etwas über 50-jährige Frau. Ist sie aber seine Mutter? Erfüllt sich der Fluch? Und was für eine Rolle spielt der geheimnisvolle, eloquente aber geschlechtslose Bibliotheksmitarbeiter Oshima, der Kafka stets mit Rat und Tat zur Seite steht?
Ein weiteres surreales Element, wo der Leser sich wiederum fragt, wo besteht die Verknüpfung zur Realität, ist der Umstand, dass, während Kafkas Vater ermordet wird und Kafka sich nach einem Blackout mit blutverschmiertem Hemd im Wald wiederfindet, Nakata den ominösen Sadisten Johnnie Walker auf die gleiche Weise tötet, mit diversen Messerstichen. Hat Nakata in Wirklichkeit Kafkas Vater umgebracht? Aber wenn ja, warum? Wo besteht die Verbindung? Oder war es doch Kafka selbst, wie es sein Vater ihm prophezeit hat? Aber Kafka weilte währenddessen auf Shikoku, sein Vater wurde zu Hause in Tokio umgebracht. Ein Ding der Unmöglichkeit für ihn, an zwei Orten gleichzeitig gewesen zu sein. Oder beginnt die Verantwortung für eine Tat wirklich im Traum...?
Murakami schreibt einfach wie ein junger Gott. Er lässt persönliche Vorlieben einfließen, sei es nun über Fachgebiete (beispielsweise liest Kafka Bücher über den zweiten Weltkrieg), Musik (von Beethoven bis Radiohead), literarischen Präferenzen (zitiert werden Rousseau, de Sade, Dickens, Kafka..) bis Filme (Francois Truffaut). Es macht einfach Spaß, zu lesen, und dabei immer wieder neue Dinge zu lernen und zu erfahren.
Um noch ein wenig zur Geschichte an sich zu sagen: Als Nakata sich mit dem jungen Hoshino auf den Weg macht, um den geheimnisvollen Eingangsstein zu finden, ein Stein, der den Zugang zu einer Welt gewährt, in der alles wieder ins Lot kommen kann, die Dinge, die verändert wurden, wieder in Ordnung gebracht werden können, betritt Kafka am Ende diese geheimnisvolle Welt (Stichwort Wald - wie bereits bei dem Vorfall in Nakatas Kinheit während der 40er Jahre). Dort findet er die Antworten auf einige Fragen, andere bleiben aber unbeantwortet. Obwohl die beiden Protagonisten, Nakata und Kafka, sich nie über den Weg laufen, sind ihre Handlungsstränge (Orte, Personen, Umstände) stets miteinander verknüpft und letztlich dient Nakata als Vorbereiter für Kafkas schlussendliche Aktionen. Er öffnet den Eingangsstein, Kafka betritt die Welt des Surrealen, auf der Suche nach Antworten.
Die Motive mit denen Murakami sich beschäftigt, sind die Suche nach Glück, das Streben nach innerer Zufriedenheit und Erfüllung, die angestrebte Platz im Leben, kontrastiert mit der inneren Agonie der Einsamkeit, stets zwischen Hoffnung und Suizidgedanken. Letztlich soll man zufrieden sein mit dem, was man hat und weiter geht es immer irgendwie. Genauso wie für Kafka, der sich für verflucht hält und für den sein Leben beendet ist, bevor es überhaupt richtig angefangen hat.
Am Ende versteht der Leser das ein oder andere rätselhafte Versatzstück, aber genügend Dinge sind immer noch so komplex, dass man sich kopfschüttelnd nach Verbindungen oder Aufklärungen fragt. Also mir ist nach Beendigung des Buches einiges immer noch nicht so klar gewesen, was genau, möchte ich aber nicht verraten, das könnte dem ein oder anderen die Lust am Lesen verderben. Was unterm Strich bleibt, ist dennoch ein absolut gigantisches Buch, ein Traum, in dem man sich verlieren kann, ein wunderschöner metaphorisch-poetischer Schreibstil, der einen alles vergessen lässt. Murakami ist schlagartig in die Riege meiner Lieblingsautoren aufgestiegen und die nächsten Bücher, die ich von ihm angehen werde, sind "Naokos Lächeln" und "Mr. Aufziehvogel". Ich kann jedem nur eine klare Empfehlung für das hier rezensierte Werk aussprechen, ihr werdet nicht enttäuscht sein!