LinkIm Sommer 1965 beging der Teenager Ray Pye ein furchtbares Verbrechen. Er erschoss zwei junge Frauen. Einfach so. Die eine starb sofort, die andere erst 4 Jahre später, nachdem sie bis dahin im Koma lag. Wir befinden uns in der Gegenwart des Jahres 1969. Die beiden Cops Ed Anderson, der den Dienst mittlerweile quittiert hat sowie sein Partner Charlie Schilling haben es nie wirklich verwunden, dass sie Ray, von dessen Schuld sie von Beginn an überzeugt waren, das Verbrechen nicht nachweisen konnten.
Ray ist ein kleingewachsener, aber sehr attraktiver junger Mann, der von sich selbst überzeugt ist wie kein Zweiter, besonders im Bezug auf die Ladies. Er dealt mit Drogen und lebt in den Tag hinein. Seine besten Freunde sind der schüchterne Tim und Jennifer, mit der er - neben vielen anderen - eine sexuelle Beziehung hat. Beide waren damals während des Mordes dabei, aber beide hielten dicht. Während der Ex-Bulle Ed sich mittlerweile anderen Dingen widmet, hängt Charlie Schilling nach wie vor wie ein Bluthund an Ray Pye. Er scheint seine Chance zu kriegen, als Ray die attraktive Katherine kennen lernt, in die er sich verliebt, die ihm aber schon bald den Laufpass gibt sowie aufgrund der Tatsache, dass Ed's junge Freundin Sally ihm ebenfalls einen Korb gibt. Als dann noch Jennifer eine Affäre mit Tim beginnt und ihm nicht mehr länger hörig ist, dreht Ray durch. Seine selbstgefällige Welt ist im Begriff einzustürzen und ein junger Mann, der so von sich selbst überzeugt ist wie er, kann dies nicht zulassen. Alle drei Frauen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, dabei macht er auch vor seiner eigenen Familie nicht Halt. Der blutige Amoklauf beginnt und das Ende soll sich dort abspielen, wo alles begann...
Wow! Ketchum mal ganz anders. Wer bisher nur seine kranken Geschichten "Evil" und "Off Season" kennt, wird sich wundern, welche Schiene Ketchum mit "The Lost" fährt. Hier ist er doch deutlich zahmer, die Geschichte ist eher ein psychologisches Kammerspiel, ein waschechter Thriller. Die Charakterisierung ist geradezu phänomenal und alles Beiläufige wird zum nervenzerreissenden Pageturner. Beispielsweise die Vergangenheit eines jeden Protagonisten sowie ihre Beziehungen zu Familienmitgliedern etc., wie etwa der Umstand, dass Charlie Schilling von seiner Frau verlassen wurde, samt den Kindern, obwohl er sie immer noch liebt. Alles was er im Leben noch hat, ist der Drang Ray für sein damaliges Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Oder der Tod von Ed's Frau Evelyn und sein momentanes Verhältnis mit der 18-jährigen Sally, von dem jeder in dem kleinen Ort zu wissen scheint - außer Sally's Eltenr...usw.
Ich habe das Buch förmlich verschlungen, die Spannung, die Ketchum hier aufbaut, die kleine Welt, die er geschaffen hat, ziehen den Leser unwiderruflich in ihren Bann. Zudem hat Ketchum diverse reale Ereignisse in seine Geschichte einfließen lassen. Wir schreiben das Jahr 1969, Woodstock ist am laufen, überall wird Dope geraucht und die freie Liebe propagiert. Man diskutiert darüber, ob Elvis ein "Badass" ist oder nicht, über die verschiedenen musikalischen Phasen der Rolling Stones, die Tatsache, dass die Beachboys eigentlich nur ein Abklatsch der Beatles sind, die Protagonisten tragen Grateful Dead T-Shirts und Charles Manson ermordet Sharon Tate im Namen Satans. Vor allem letzterer Punkt wird hervorgehoben, denn als Ray durchdreht und einer unschuldigen Geisel ihr Baby aus dem Leib schneiden möchte, nimmt Ketchum hier direkt Bezug auf das Verbrechen Mansons. Und hier läuft Ketchum auch wieder zu gewohnter "Hardcore" Form auf. Was Ray bei seinem blutigen Amoklauf so alles anstellt, spottet jeder Beschreibung. Ich möchte an dieser Stelle aber auch nochmal betonen, dass es in keinster Weise störend ist, dass bis dahin nicht viel an Abscheulichkeiten passiert, im Gegenteil, "The Lost" ist - von allen die ich bisher gelesen habe - Ketchums reifstes Buch. Auch vorher ist bereits die eine Gore- oder Sexszene dabei, aber er überspannt den Bogen zu keinem Zeitpunkt. Selbst am Ende wirkt die Gewalt oder Sex nie selbstzweckhaft, wodurch er sich in meinen Augen deutlich von Schreiberkollege Robert Laymon unterscheidet.
Eine Stelle aus dem Buch, die als Exzerpt vorangestellt ist:
Katherine took another sip of vodka.
Ask him, she thought.
It's sick but it's really what you want to know most of all, isn't it? So go and ask him. Truth or lie you want to hear his answer. She lit a cigarette and shook out the match.
"So you didn't tell me, Ray," she said. "What did it feel like?"
"Huh? I did tell you."
"You told me how it felt after. Not then. Not at the time."
She took another long drink and looked at him.
"Not when you were out there killing people."
"Jesus, Kath." He looked uncomfortable as hell but she noticed that the spark had come back to his eyes. "You really want to know this?"
"I guess I must. I'm asking."
The house was silent. She could hear the ice clink in his scotch as he tipped the glass and drank. She felt absurd for a moment and a little frightened. Like they were sitting around a fire and she was about to hear him tell a ghost story.
He pushed himself up on the couch. He wouldn't meet her eyes.
He spoke slowly, carefully...
Eine etwas krassere Szene:
He raised the knife and held it above her pointed down and her hearing had returned enough by then for her to hear him mutter
do her just like Sharon, he was talking about Sharon Tate and if the woman even knew he was standing there she didn't show it, she just kept holding on to her husband's head until the knife came down and entered her just above the collarbone and she yelped like a struck dog and blood spurted up and out and Ray pushed the entire length of the blade down into her.
Her arms flwe up and clutched his fists on the handle of the knife and he pulled it out, a rough sawing motion and he reached for her shoulder and pushed her face-first across her usband, her blood already pooling on the floor as now the hands went to her own pulsing wound as before they had gone to his,
holding it in, holding in the life.[...]
She knew what they'd done to Sharon Tate.They'd cut out her baby.
And that's what Ray was mumbling about, that and all the other filthy things they did to her, toneless, mild, talking about
cutting her tits off and carving these words in her belly and blood on the walls and that'll give 'em something to think about absolutely, cut out the baby and put it in her lap, wrap the cord around her neck and telling the woman to beg,
beg for her baby and meantime he was stabbing her over and over and god knows how many times she could hear the woman's tiny cries deep in her throat and thumping sounds like melons dropping, heard every impact, she could smell the blood in the air thick as the smell in a butcher shop, she could hear it fall like heavy raindrops on the floor, imagine it flowing pooling toward her feet.
Der eingebildete, von sich selbst überzeugte Ekeltyp Ray ist dermaßen realistisch und detailliert beschrieben, dass es eine helle Freude ist. Es gibt kein Mädchen, das ihm nicht verfallen würde, ständig hat er eine andere. Er feiert Drogenparties und resümiert gedanklich darüber, welches Mädchen er in diesem Raum schon im Bett hatte. Als Katherine, der er verfallen ist und die auch der einzige Mensch ist, der er den Mord von vor vier Jahren gestanden hat, ihm mitteilt, dass sie keine feste Beziehung will und er sie in Ruhe lassen soll, fühlt er sich in seinem Stolz als Mann verletzt. Eines kommt zu anderen, seine Welt bricht Stück für Stück zusammen und der Psychopath in ihm kommt vollends zum Vorschein. Die eitlen Gedanken von Ray sind einfach herrlich beschrieben, man ist als Leser hin und her gerissen zwischen unterhaltendem Amusement und Abscheu vor dem Charakter Ray Pye - Abgründe der menschlichen Seele.
Was mir neben dem stets souveränen Schreibstil noch besonders gefallen hat, ist das "Hinterher" - ähnlich wie in "Off Season". Auch hier geht Ketchum nochmal auf das Schicksal der Protagonisten ein. In diesem Zusammenhang möchte ich hervorheben, dass Ketchum, nicht unähnlich der Handlungsstränge in "Evil" und "Off Season" auch in "The Lost" keine Skrupel hat, seine Figuren sterben zu lassen. Hier regiert die bittere Realität, wer zuckersüße Happy Ends sucht, soll einen anderen Autoren lesen. Das Chaos nimmt zwar irgendwann ein Ende, aber die Verluste, die hingenommen werden mussten, sind groß.
Ich kann nur eine große Empfehlung für dieses Buch aussprechen. Ketchum ist ein Meister der Spannungsliteratur und trotz des harten Tobaks, den er abhandelt, werde ich immer mehr ein Fan von ihm. Dies ist sicher nicht das letzte Buch, was ich von ihm gelesen habe.