TEIL 3
Justin stockte der Atem und er fühlte, wie seine leicht gebräunte Haut kreidebleich wurde. Er war sich nicht sicher, ob es Darcy ernst war mit dem, was sie sagte oder ob es nur ein mieser Psychotrick von dem unbekannten Entführer war.
Plötzlich spürte er einen starken Druck in seinem Rücken, der sich wie ein Stoß anfühlte. Er stolperte in die Mitte des finsteren Raumes und fiel zu Boden. Panisch blickter er durch die Dunkelheit, konnte jedoch nicht die kleinste Kontur erkennen. Aus den Lautsprechern klang leise der Song "I Was Born To Love You" von Freddie Mercury. Es schien als würde der Unbekannte Justin und seine Nachbarin Darcy verspotten mit einem Song, dessen Titel gegensätzlicher nicht sein konnte.
"Darcy, verdammt nochmal! Wieso tust du das?! Ich habe dir nichts getan!" schrie Justin in den Raum hinein, ohne zu wissen, wo seine sonst so herzensgute Nachbarin stand, welche immernoch bitterlich weinte. Er hatte seine Orientierung und den Sinn für das räumliche Denken komplett verloren. Angst und Panik hatten von ihm Besitz ergriffen und seinen Verstand völlig umschlungen.
"Ich muß es tun, sonst tut er mir weh. Justin, er wird mir sehr wehtun, wenn ich dich nicht töte", antwortete eine verzweifelte Darcy mit weinerlicher und gequälter Stimme. "Ich will nicht. Ich will einfach nicht mehr. Mami, bitte hilf mir. Maaaamiiiii."
Justin hatte nicht den Mut, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, aus Angst eine schwere Axt könnte ihn in zwei blutige Teile spalten. Er versuchte, sich auf das Klagen von Darcy zu konzentrieren, um herauszufinden, wo sie sich im Raum befand. Er stand nicht auf, sondern kroch auf Knien durch den Raum in der Hoffnung, nicht die todbringende Axt spüren zu müssen.
Er hörte die Anstrengung, die Darcy aufbringen musste, um dieses schwere Mordinstrument durch die Luft zu schwingen, welches in kurzen Abständen immer wieder mit einem leisen eisernen Kratzen den Boden berührte. Er hörte ihre Schritte, die mehr wie ein Schlurfen klangen, da sie ihre Füße nicht richtig vom Boden hob.
Als er der Meinung war, an Darcy vorbei gekrochen zu sein, rappelte er sich auf, drehte sich um und stürzte ruckartig nach vorne, woraufhin sein Brustkorb gegen Darcys Rücken prallte. Er stand so nah hinter ihr, dass er ihr Shampoo, welches nach Apfel roch, wahrnehmen konnte. Plötzlich schallte ein lauter markerschütternder Schrei durch die Finsternis und Justin ließ, vor Schreck wie erstarrt, von Darcy ab. Diese drehte sich um hundertachtzig Grad und holte weit mit der Axt aus, bevor sie mit voller Wucht zuschlug.
Justin, unfähig sich zu rühren, spürte kurz darauf einen beißenden Schmerz an seinem linken Oberarm und eine schnell ansteigende Übelkeit. Er spürte ein starkes Schwindelgefühl und es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten.
Schnell wurde ihm klar, dass Darcy ihn zwar nicht richtig getroffen, aber auch nicht richtig verfehlt hatte. Sie hatte ihn lediglich gestreift, doch das reichte schon, dass er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand auf die Wunde drücken wollte. Sicherlich war der Schock größer, als es die eigentliche Verletzung gewesen ist, doch Justin dachte, er wäre kurz davor, seinen Arm zu verlieren.
Er versuchte, seine Hände ein weiteres Mal auseinander zu ziehen, doch auch dieses Mal hatte er keinen Erfolg, was noch zu mehr Schmerzen für ihn führte. Er torkelte einige Schritte zurück.
Es würde tödlich enden, wenn er jetzt an ein und derselben Stelle verharren würde, da Darcy noch immer hysterisch mit der Axt die Luft zerteilte.
"Er versucht uns zu täuschen, Darcy. Glaub mir, er wird uns nichts tun. Er will, dass wir uns gegenseitig töten, damit er sich nicht die Finger schmutzig machen muss", versuchte Justin Darcy einzureden, doch diese schwang weiter die Axt, um Justin das Leben auszuhauchen. "Darcy, er täuscht uns", wiederholte Justin, glaubte sich selber jedoch kein einziges Wort.
Dieses Mal hörte er den Kopf der Axt zu Boden gehen. Sie kratzte über den Boden, weil Darcy sie immernoch in der Hand hielt. Das Weinen nahm etwas ab und sie sagte in einem schluchzenden Ton: "Glaubst du wirklich, dass wir hier heil rauskommen?"
Justin war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich naiv genug war, seinen Worten Glauben zu schenken, doch es war die einzige Chance, sich vor dem sicheren Tod zu retten und hoffte, sie würde ihm glauben. "Vertrau mir", er Justin hinzu.
Nun hörte er auch den Aufprall des hölzernen Griffes und das Weinen verstummte schließlich ganz, bis nur noch ein unregelmäßiger Atmen zu hören war. Erleichtert, aber dennoch erschöpft fiel Darcy zu Boden und sagte: "Justin, ich weiß, wer unser Entführer ist. Ich habe sein Gesicht gesehen."
"Du weißt es?" fragte Justin erstaunt.
"Ja, ich weiß es. Als mich der Entführer hierher brachte, trug er keine Maske. Er überraschte mich, als ich gerade duschen wollte. Er stürmte in mein Badezimmer und schlug mich bewusstlos."
"Und da hast du sein Gesicht gesehen?"
"Nein, erst in seinem Auto konnte ich in diese verachtenden Augen blicken. Und glaub mir, diese Augen hatten nichts menschliches an sich."
"Wer ist's denn nun? Was ist das für ein irrer Kerl, der uns hier quält?"
"Justin, du wirst es kaum glauben, aber..."
Plötzlich wurde Darcy von dem Donnern der eisernen Tür unterbrochen, die unter großem Getöse aufschlug. Bevor Justin in der Lage war, sich zu rühren und das hereinströmende schwache Licht der Außenwelt zu realisieren, spürte er einen Schlag direkt auf seinem Hinterkopf. Von diesem Augenblick an wurde es ruhig um ihn. Keine Stimmen oder Geräusche schwirrten mehr durch den Raum, nur grenzenlose Stille.
Auch das Licht, welches sachte in das muffige Verlies strahlte, erlosch. Somit war alles um ihn herum still und schwarz. So musste es sich anfühlen, wenn man tot ist.
Weder Träume noch irgendwelche Gefühle, die einen aufschrecken, lachen oder weinen lassen. Die Zeit wurde in diesem Moment bedeutungslos. Sorgen gehörten auf einmal der Vergangenheit an. Doch lange sollte diese friedliche Stille nicht anhalten.
Justin wachte mit pochenden Kopfschmerzen auf der kalten Pritsche auf, welche nun völlig ohne die muffige Decke auskommen musste und von der jede Spur fehlte. Er öffnete die Augen, welche sich schnell an das Licht, welches die Glühbirne in der Mitte des Raumes verteilte, gewöhnten. Es kam ihm vor, als seien lediglich ein paar Minuten verstrichen, nachdem ihm ein harter Gegenstand gegen den Kopf schlug.
Doch der Unbekannte aus den Lautsprechern belehrte ihn eines besseren: "Na wer macht denn da die Äuglein auf? Mr. Lincoln, haben sie schön geschlafen? Sie waren bestimmt gute fünf Stunden weg."
Justin versuchte sich aufzurichten, doch es fiel ihm schwer, seinen Oberkörper zu erheben. Mit größter Anstrengung wuchtete er sich hoch und saß nun aufrecht. "Was zum Teufel...?" stammelte er. Noch immer benommen sah er sich im Raum um.
"Hat ihnen der kleine Tanz mit ihrer süßen Nachbarin gefallen, Mr. Lincoln? Haben sie es genossen? Hatten sie Spaß?" spottete der Unbekannte.
Wut kroch in Justin hoch. Solch eine Wut, wie er sie noch nie zuvor gefühlt hatte.
"Du kranker perverser Drecksack. Macht dich das scharf, wenn du zusiehst, wie wir uns quälen? Macht's dich geil?" fragte Justin provozierend.
Kurze Zeit war es still im Raum. Nur ein leises Rauschen tönte aus den Lautsprechern an den Wänden, bis es durch die bekannte metallische Stimme ersetzt wurde: "Es ist eine kleine Genugtuung zu sehen, wie verzweifelt und hilflos sie sind. Um ihnen meinen Dank zu zeigen, Mr. Lincoln, habe ich ihnen zwei kleine Geschenke in ihr Zimmer gestellt. Ein Dankeschön für ihre Anwesenheit und ihren Eifer, den sie hier an den Tag legen. Schauen sie unter sich."
Justin kniete sich vor die Pritsche und sah zwei große Taschen darunter stehen. Er setzte sich hin und versuchte sie mit seinen Beinen an sich heran zu ziehen. Als er beide Tüten zu sich gezogen hatte, richtete er sich auf und warf einen Blick in die erste Tüte. Justin stieß einen dumpfen Schrei aus, riss die Augen, die nun ein weiteres Mal voller Angst und Verzweiflung waren, so weit er konnte auf und trat einen Schritt zurück, als er erkannte, was darin verborgen war.
Es war ein abgetrennter Arm, welcher von Schnittwunden und Verbrennungen übersät war. Er musste zu einer Frau gehören, da er für einen Mann zu schmächtig aussah. Justin hatte schwer damit zu kämpfen, sich nicht übergeben zu müssen.
"Du kranker...", sagte Justin leise, musste den Satz aber abbrechen, da er ein weiteres Mal gegen die hereinbrechende Übelkeit ankämpfen musste. Er fasste seinen ganzen Mut zusammen und trat an die zweite Tüte heran. Obwohl er zitterte wie Espenlaub, beugte er sich über sie und warf einen Blick hinein.
Nun konnte er jedoch nicht mehr an sich halten und übergab sich auf den kalten massiven Steinfußboden. Ihm stockte der Atem und eine weitere Panikattacke kam in ihm auf.
Die durchdringende Stimme des Unbekannten meldete sich: "Und, was sagen sie zu ihren Geschenken? Ist doch nett. Ich will ihnen doch nur eine Freude machen."
In der zweiten Tüte befand ich ein abgetrennter Kopf, dessen entstelltes Gesicht nun auf ewig in Justins Gedächtnis eingebrannt war.
Die Mundwinkel dieser Todesfratze waren bis zu den Ohren aufgeschlitzt. Die Augen waren heraus gebrannt worden und in die Stirn wurde das Wort "VERLOREN" geritzt. Justin erkannte das Gesicht. Es gehörte der Person, mit der er gerne Scherze am heimischen Gartenzaun machte. Es war Darcy.
Wieder meldete sich der Unbekannte: "Sie sagte ja, ich würde ihr wehtun, wenn sie nicht das macht, was ich ihr gesagt habe. Und ich meinte es auch so. Ich habe ihr aber nur ein bisschen wehgetan, wie sie sehen können. Tja, so kann es gehen. Und wie sie sehen, Mr. Lincoln, täusche ich hier niemanden. Nur sie täuschen sich, wenn sie glauben, dass sie das hier überleben werden - sie und ihre gottverdammte Familie."