Marcel, du machst mich noch ganz verlegen... :oops:
Es regnete. Der Himmel hatte sich zugezogen und die Wolken ergossen kühles Nass auf Salmonville. Der Anblick hatte etwas beruhigendes, so schien es Claire jedenfalls. Es war, als würde der Regen all das Übel, welches sich in den letzten Stunden gewaltsam Einlass in ihr Leben verschafft hatte, wegwaschen. Doch dies war nur eine Illusion, das wusste sie. Nichts hatte sich geändert an ihrer Situation. Die Toten streiften noch immer umher, gierend nach der Wärme der Lebenden, deren Blut, deren Fleisch...Claire schauderte es. Allein die Vorstellung, dass Menschen Menschen aßen, zog ihr den Magen schmerzhaft zusammen. Die Welt stand auf dem Kopf, alles um sie herum schien zu zerfallen, welchen Sinn hatte all dies noch?
Ein kleiner Funke war noch dort, tief verborgen in ihr, doch dennoch hell genug, sie etwas zu wärmen. Das Liebesgeständnis von Stan. Sie hatte es schon immer gewusst, doch nie hätte sie den Mut aufgebracht, ihn darauf anzusprechen, denn sie hatte Angst gehabt. Was, wenn ihr Gefühl sie doch getäuscht hätte? Sie hätte es nicht ertragen können, denn sie hegte die gleichen Gefühle auch für ihn. Seine ruhige und nette Art, seine Fähigkeit, zuhören zu können, ihr das Gefühl zu geben, jemand war da, der sie verstand. Sein jungenhaftes schiefes Lächeln, die Art und Weise, auf die er sie immer ansah und dann verlegen beiseite schaute. Wie sehr erinnerte sie das an den kleinen Jungen, der er einst gewesen war, dem sie im Sandkasten immer die Plastikförmchen an den Kopf geworfen hatte. Und nun war er ein Mann. Nie hatte sie dies wirklich registriert, sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Sie waren beide erwachsen und jung, viel früher schon hätten sie sich entschließen können, den Lebensweg gemeinsam zu beschreiten. Doch noch war sein Geständnis unerwidert geblieben. Vielleicht sollte sie ihm bald ihre Gefühle offenbaren, sehr bald, denn Gott allein wusste, wieviel Zeit ihnen noch blieb.
Claire wandte sich vom großen Wohnzimmerfenster ab und blickte in den Raum. Auf einem der ausladend großen Sessel saß niedergeschlagen Dr. Butchers Frau, eine Tasse Tee in den zittrigen Händen, zu Boden blickend.
"Wie konnte mir all dies nur entgehen?" sagte sie gepresst. "Wieso hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung von den Schrecken, die mein Mann heraufbeschwor?"
Stan, der ihr gegenüber saß, legte seine Hand auf ihre und sah sie an.
"Oft meinen wir, die, die wir lieben, zu kennen", sagte er ruhig und einfühlsam. "Niemand weiß, was in den dunklen Tiefen im Innersten eines Menschen vorgeht, welche Phantome sich in seinem Geist verbergen."
Sie blickte auf, dankbar für die tröstenden Worte.
"Wir leben...lebten schon so viele Jahre zusammen", sagte sie. "Ich war immer im Glauben, er entwickle alternative Heilmethoden für bisher unheilbare Krankheite, aber nach all dem, was ich nun gehört und gesehen habe..." Sie schaute wieder zu Boden, ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Luigi stand erschöpft am gemauerten Kamin an der hinteren Wand des Raumes. Das flackernde Feuer spiegelte sich in seinen Augen. Die glimmende Zigarette in seiner Hand zitterte. Erst jetzt begann er langsam zu realisieren, in was für einer Situation sie sich befanden. Es brach über ihm zusammen wie ein Kartenhaus im Sturm.
"Ich möchte nicht unhöflich erscheinen", warf er ein. "Aber wir sollten langsam mal zur Sache kommen. Wir sind jetzt seit einer geschlagenen Stunde hier, aber wir wissen noch immer nicht, was zum Teufel wir machen sollen."
Stan sah ihn streng an, doch er konnte ihn andererseits auch verstehen. Wenn sich nicht bald eine Lösung für dieses Problem fand, waren sie verloren. Was, wenn diese...Seuche weiter um sich griff? Die ganze Welt war bedroht.
"Man sollte das Militär benachrichtigen", fuhr Luigi fort. "Die müssen doch was unternehmen können!"
"Das sehe ich anders", entgegnete Claire. "Die ganze Sache kam einmal kurz in den Nachrichten, seitdem hat man nichts mehr davon gehört. Offenbar hat man dafür gesorgt, dass nicht bekannt wird, was hier passiert."
"Man will vielleicht eine Panik vermeiden", vermutete Stan.
"Oder die Sache totschweigen", antwortete Claire und verschränkte die Arme vor der Brust. "Vielleicht haben die alles im Umkreis schon abgeschottet und werfen demnächst eine Bombe auf Salmonville, wer weiß? Das hier ist nur ein kleiner, unbedeutender Ort. Warum sollten die eine Ausbreitung dieser...ach, was immer es ist, riskieren?"
"Ach was!" sagte Luigi entrüstet. "Das hier ist Amerika, die können doch nicht einfach Zivilisten umbringen!"
"Die können noch ganz andere Sachen, mein Guter!"
"Das ist doch Wahnsinn!" Luigi warf den ausgerauchten Zigarettenstummel ins prasselnde Kaminfeuer und trat an Claire heran. "Meine Familie kam nach Amerika, weil dies das Land der Freiheit ist!"
"Ja, getränkt mit dem Blut der Ureinwohner!"
"Jetzt macht aber mal Schluss!" fuhr Stan dazwischen "Wir haben jetzt andere Probleme als die Vergangenheitsbewältigung! Vielleicht trifft das, was Claire sagt, wirklich zu. Wir sollten herausfinden, ob die Umgebung hier wirklich abgeriegelt ist, denn wenn sie das ist, stecken wir in noch größeren Schwierigkeiten, als ohnehin schon!"
Claire und Luigi schauten ihn an und nickten schließlich. Es war einleuchtend. Wenn das Militär die Gegend abgeriegelt hatte, gab es vielleicht kein Entkommen.
"Aber wenn es stimmt, könnten sie uns vielleicht doch helfen, uns in Sicherheit bringen." Luigi klang unsicher. Er zweifelte im Grunde seines Herzens daran.
"Hast du Crazies gesehen?" wollte Stan wissen.
Luigi schwieg.
Claire kniete neben Stan nieder, legte eine Hand auf seinen Oberschenkel und blickte in seine Augen.
"Ich fürchte, es ist so. Wenn uns kein Ausweg bleibt, müssen wir uns verstecken."
"Aber wo?" fragte Luigi. Er zündete sich eine weitere Zigarette an.
Stan sah Claire an und wusste, dass sie das gleiche dachte wie er.
"Das alte Bergwerk", sagte er. "Als Claire und ich noch klein waren, haben wir dort oft gespielt. Unsere Eltern hatten uns das verboten, aber wie das mit Verboten halt so ist...wir waren oft dort, es war gruselig und ein Abenteuer für uns. Es gibt dort viele verzweigt Gänge und Schächte, ich glaube, dort wären wir relativ sicher. Claire und ich kennen uns dort aus."
Claire lächelte und küsste Stan auf die Stirn. Er blickte sie etwas überrascht an, lächelte dann aber auch.
"Okay, fahren wir hin. Ich kann mich in den Laderaum setzen, dann hat Mrs. Butcher vorne Platz. Dort können wir uns verschanzen, bis sich die Situation beruhigt hat."
"Eine Rückkehr an einen Ort unserer Kindheit", sagte Stan melancholisch.
"Und wieder wir zusammen", flüsterte Claire. "Ich würde mit niemand anderem dort hin gehen wollen. Und wenn dies der letzte Weg ist, den wir gehen, dann gehen wir ihn Seite an Seite."
to be continued...